Die Giftmeisterin
unbestimmbaren Blick der Alten, einen zweiten. Ganz wohl war mir nicht. Aber ich dachte mir, dass die Alte wüsste, was sie tat. AuÃerdem gehörte sie zu Fionee, und Fionee vertraute ich mittlerweile völlig. Das alles war nicht erklärbar. Ich spürte eine groÃe Nähe zu ihr, selbst wenn sie
nicht körperlich anwesend war, ich bei Arnulf lag oder an einem Jagdausflug teilnahm. Ich war nie ganz frei von ihr.
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Mit dem Kelch in der Hand bekam die Zeit eine andere Ausdehnung. Ich war gelöst und hing, wie manchmal morgens vor dem Aufstehen, zahlreichen Gedanken nach. Sie hätten um Gerold und Gerlindis kreisen müssen, die von Grifos Verurteilung am meisten betroffen sein würden. Oder um den Anschlag auf mein Leben. Aber ich dachte an Angenehmes: an den Druck von Arnulfs Armen, die ich beinahe fühlen konnte; an die Monate meiner ersten Schwangerschaft, als mein Glück vollkommen gewesen war; an den ersten Tag, den ich zusammen mit Gerlindis verbrachte; an eine Garbe Wiesenblumen.
»Ermengard, wie schön!«
»Fionee!« Sie sah gesund aus, nichts erinnerte mehr an ihren gestrigen Anfall. »Ich wollte dich sehen, um zu erfahren, ob es dir gut geht.«
»Keine Sorge, ich bin wohlauf.«
»Was war das gestern, Fionee? Bist du krank geworden? Oder war etwas in dem Trank drin, das du nicht vertragen hast?«
»Nein... Nein, ich habe alles vertragen. Ich bin das gewöhnt.«
»Was bist du gewöhnt?«
»Die Wirkung. Sie wusste selbst, dass sich mir mit jeder Antwort, die sie gab, zwei neue Fragen stellten, und dass es so nicht weitergehen konnte.
»Ich werde dir einiges erklären«, sagte sie. »Zunächst einmal: In dem Wein, den du gestern getrunken hast, befand sich eine Substanz, die lösend und anregend auf das Gemüt wirkt. Ich hielt das angesichts deiner seelischen Verkrampfung
für eine gute Idee, habe vorsichtig dosiert, aber offenbar immer noch zu hoch. Jeder Organismus reagiert anders darauf.«
»Ich habe geweint, ohne mich dabei miserabel zu fühlen.«
»Das ist erwünscht.«
»Dann war ich gleichgültig. Später euphorisch. Und heute Morgen kam ich mir wie ausgeleert vor.«
»Und die Ãngste kehrten zurück?«
»Ja.«
»Das war leider vorherzusehen. Der Trank stimuliert dich nur für ungefähr einen halben Tag. Ich habe dir zu viel gegeben, somit hielt die Wirkung etwas länger an, zudem war sie zu stark. Hattest du heute Morgen seltsame Erlebnisse irgendwelcher Art?«
»Das hatte ich tatsächlich. Ich glaubte, alle Menschen um mich herum blickten mich feindselig an.«
»Die Substanz, von der ich sprach, holt Eindrücke hervor, die du vor dir selbst verbirgst, sie öffnet das Verschlossene, schont dabei aber deine Seele. Das vorherrschende Gefühl ist zunächst: Alles wird gut. Im Ãbermaà genossen, kann sie allerdings Trugbilder erzeugen, und zwar noch Stunden nach der Einnahme. Dennoch steckt etwas Wahres in diesen Trugbildern, insofern, als sie deine Ãngste verkörpern.«
Ich verstand nicht alles von dem, was Fionee erklärte, wollte es nicht verstehen, wich aus.
»Ich erinnere mich an jedes Wort, das ich gestern zu dir gesagt habe.«
»Das ist gut.«
»Ich habe dir viel erzählt.«
»Entscheidendes.«
»Wofür entscheidend?«
»Für dein Leben, Ermengard.«
Ich lachte nervös. »Ja. Ich bin selbst überrascht, wie viel alten Kram ich mit mir herumschleppe. Nutzlose Dinge...«
»Es sind keine Dinge, Ermengard, es sind Erinnerungen, die mit schlechten Gefühlen verbunden sind, und du hast diese Gefühle viele Jahre lang Tag für Tag gleichsam in eine Phiole tief in dir drin abgefüllt und immer mehr Neues hinzugegeben. Aber kein Gefäà der Welt ist unbegrenzt aufnahmefähig, und so hast du dich selbst vergiftet.«
»So schlimm ist es nicht.«
»Was dich von manch anderen unterscheidet, ist, dass du hohe Ansprüche an dich stellst. Du willst lieb sein und hilfsbereit und höflich, die beste Gattin für deinen Mann, die beste Mutter für deine Nichte, deinen Freundinnen die beste Freundin... Du bist unentwegt damit beschäftigt, anderen zu gefallen, und hast immer Angst, nicht zu gefallen. Denk an das Trugbild von heute Morgen. Deswegen bist du unglücklich.«
»Das ist nicht wahr. Unglücklich bin ich wegen Emma und wegen meiner
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