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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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wir groß werden, und die Entscheidungsgewalt darüber, ob wir beim Anblick eines übel riechenden Bettlers von Mitgefühl, Gleichgültigkeit oder Abscheu erfüllt werden, haben wir zunächst nicht. Wohl aber haben wir die Entscheidung darüber, ob wir am Bettler vorbeigehen oder ob wir stehen bleiben und ihm eine Münze geben, vielleicht sogar noch mehr als eine Münze, nämlich ein paar Worte. Ich glaube an die Kraft, sich uns selbst entgegenzustemmen und mit der Anstrengung unseres Verstandes unseren Charakter zu überlisten.
    Â 
    Wieso erzähle ich das? Weil ich einen solchen Kampf mit mir selbst verloren habe? Ich bin gescheitert, ja, das stimmt, aber ich habe auch einen Sieg errungen, wenigstens kommt es mir so vor.
    Â 
    Das Verbrechen, das ich beging, stand nicht plötzlich vor mir, sondern es trat langsam aus Nacht und Nebel hervor wie die Konturen eines dunklen Waldes am Horizont. Ihm lag keine Planung zugrunde, aber ich wehrte mich auch nicht dagegen. Es hat viele Väter und Mütter, eine ganze
Ahnenreihe von Ursachen, die alle zu kennen mir unmöglich ist. Da sind Gefühle in meinem tiefsten Innern, nie verheilte Verletzungen, erlittene Schläge. Ängste, niedrige Emotionen wie Neid und Rache. Auch das Leid in den sächsischen Kinderaugen spielt eine Rolle.
    Und Gerold? Welchen Anteil hat er daran? Welchen Anteil hat seine verstorbene Frau?
    Â 
    Der Wein. Der Wein rauscht in mir, er hat mich erobert.
    Â 
    Um nicht zu trinken, schreibe ich weiter und setze die Splitter zusammen, an denen ich mich verletze.

26
    ALS GEROLD UND ich uns in Hugos Gemach gegenüberstanden, empfand ich eine Peinlichkeit, die sich nicht bloß aus der Tatsache speiste, dass er mich ertappt hatte. Zum zweiten Mal in meinem Leben war ich mit ihm allein - das erste Mal war in der Nacht nach Hugos Tod gewesen, als er mich zu meinem Haus zurückbegleitet hatte -, und ich begriff, dass ich all die Jahre, die wir uns kannten, jedwede Vertraulichkeit vermieden hatte. Und mit jemandem allein zu sein, ist etwas Vertrauliches.
    Â 
    Gerold hätte Rechenschaft von mir verlangen können, warum ich mich in Hugos Gemach befand. Das tat er jedoch nicht. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Augen etwas Schlaues hatten.
    Er sagte: »Grifo hatte einen Unfall.«
    Â»Was ist passiert?«
    Â»Er stürzte vom Pferd.«
    Â»Wie ich!«
    Â»Ja, nur passierte es ihm im vollen Galopp. Er ist verletzt, ein Beinbruch, so scheint es, aber er hatte noch Glück, dass es kein Genickbruch wurde. Man bringt ihn gerade auf einer Pritsche. Ich bin vorausgeritten, um sein Lager vorzubereiten.«
    Â»Ich helfe Euch.«
    Â»Ich wollte gerade ein paar zusätzliche Decken aus diesem
Quartier holen, als ich Euch - bemerkte. Euer Duft, Gräfin... Rosenöl... In Hugos Gemach fällt Rosenöl auf.«
    Ich nickte, als hätte er mir die Lösung eines Rätsels verraten, bevor ich durchblicken ließ, dass ich mich ein wenig schämte.
    Gerold holte die Decken, indes ich in Grifos Gemach ging, das Lager aufschüttelte und ein höheres Kopfpolster aus Stroh herrichtete. Gemeinsam legten wir das Bett mit zusätzlichen Teppichen und Kissen aus. Noch immer verlor er kein Wort über meine Anwesenheit. Natürlich hatte er ganz andere Sorgen. Trotzdem; da für Grifo keine unmittelbare Lebensgefahr bestand und Gerold alles im Griff zu haben schien, verwunderte mich seine Zurückhaltung. Kein vorwurfsvolles Wort. Kein strafender Blick.
    Â»Grifo war immer ein so sicherer Reiter«, sagte ich. »Verwegen, aber geschickt. Und nun das.«
    Gerold überlegte, wägte ab. Dann holte er aus seinem Wams ein Stück des Zaumzeugs hervor und drückte es mir in die Hand.
    Â»Seht es Euch an, Gräfin.«
    Einer anderen Dame hätte Gerold es sicherlich nicht gegeben, weil Damen sich gemeinhin mit Zaumzeug so gut auskennen wie Herren mit Haarnadeln. Ich war jedoch Sattlerstochter, und Gerold wusste das.
    Ich bemerkte sofort, was damit nicht stimmte. »Es ist gerissen«, sagte ich. »Aber zuvor wurde es angeschnitten.«
    Er nahm es wieder an sich.
    Â»Genau. Jemand wollte, dass Grifo stürzt und sich den Hals bricht.«
    Ich erhob keine Einwände. Der Sachverhalt ließ nur diesen Schluss zu.
    Dann erregte Gerold doch noch meinen Widerspruch, als
er so weit ging, zu behaupten, der Anschlag beweise, dass ein anderer Hugo umgebracht habe, derselbe nämlich,

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