Die Gilde der Diebe
Avenue der Öffentlichkeit frei zugänglich war, musste man bei ihrem Betreten an Wachposten vorbei. Große Schilder wiesen darauf hin, dass das Fotografieren hier verboten war. Vor einer der Botschaften erblickte Jonathan zu seiner Überraschung eine Gruppe Polizisten, die mit ihren Waffen im Anschlag die Straße überwachten.
Zwischen all den architektonischen Bollwerken stellte Xaviers Anwesen eine Kuriosität dar. Es lag ein Stück von der Straße zurückversetzt im Schattenzweier riesiger Eichen. Über die mit Stacheldraht und Eisendornen besetzte gewaltige Ziegelmauer hinweg konnte man von dem Gebäude nur den Dachfirst sehen. Der einzige Zugang zum Grundstück führte augenscheinlich durch ein schweres Eisentor.
»Das ist ja eine Festung!«, rief Jonathan. »Wer ist dieser Xavier?«
Carnegie runzelte die Stirn.
»Außer seinem Namen kenne ich nur einige Gerüchte und was man sich auf der Straße erzählt. Er hat ein Vermögen mit seinen Seidenfabriken in Darkside gemacht. Was man so hört, waren sie die reinste Hölle. Die Leute arbeiteten dort zwanzig Stunden am Tag, Kinder wurden von den Maschinen zerquetscht, und er schien sich einen Spaß daraus zu machen, seine Arbeiter zu quälen. Selbst Darksider machten einen weiten Bogen um ihn. Wie dem auch sei, vor einigen Jahren zog er hierher und das war’s. Man sagt, dass er verrückt ist, unter Verfolgungswahn leidet und nie das Haus verlässt. Vielleicht stimmt nichts davon, vielleicht ist auch alles wahr. Ich weiß nur, dass man sich besser nicht mit ihm anlegt.«
Irgendwo hinter ihnen schlug eine Glocke neun Uhr. Jonathan wandte den Kopf, um zu sehen, woher der Klang kam, und bemerkte eine Limousine, die auf Xaviers Anwesen zuhielt.
»Da kommt ein Auto!«, zischte er hastig.
»Binde dir die Schuhe. Und lass dir Zeit.«
Jonathan kniete sich hin, öffnete rasch seine Schuhbänder und bemühte sich, möglichst unverdächtig auszusehen.Als die Limousine an ihnen vorbeifuhr, blickte er auf und bemerkte, dass die Fenster verdunkelt waren und die Karosserie gepanzert war. Sie näherte sich dem Anwesen bis auf wenige Meter, dann schwangen die schweren Eisentore mit einem sonoren Brummen auf. Jonathan erhaschte einen Blick auf die kiesbedeckte Auffahrt und auf ein Gebäude mit einer hässlichen gotischen Fassade. Neben ihm starrte Carnegie unverhohlen durch das Tor.
»Was machst du da?«, zischte Jonathan. »Bisschen auffällig, oder?«
»Ist kein Verbrechen, sich etwas anzusehen, Junge. Wenn jemand rauskommen möchte, um mir was Gegenteiliges zu sagen, soll es mir recht sein.«
Die Limousine kam in der Auffahrt sanft zum Stehen und mehrere bewaffnete Leibwächter in dunklen Anzügen stiegen aus. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Umgebung gesichert war, öffneten sie die Fahrgasttür und halfen Cornelius Xavier aus dem Wagen. Der Seidenhändler war einer der seltsamsten Menschen, die Jonathan je gesehen hatte. Sein schmerzhaft gekrümmter Körper war etwas über einen Meter fünfzig groß. Seine ausladende, mit weißen Symbolen übersäte Robe verbarg seinen kugeligen Bauch genauso wenig wie seine dunkle Sonnenbrille die eingefallene, alte Haut. Er schlurfte hinkend über den Schotterweg, was ihn noch älter erscheinen ließ.
Als Xavier das Haus erreichte, stolperte einer seiner Leibwächter und rempelte ihn an. Der Seidenhändler schaute den ungeschickten Mann mit einem vernichtendenBlick an und schlug ihm ohne Vorwarnung mit seinem Gehstock auf den Hinterkopf. Der Wächter fiel wie ein gefällter Baum auf den Boden. Mit überraschender Geschwindigkeit stürzte sich Xavier auf ihn und verpasste dem leblosen Körper einen Schlag nach dem anderen, während die übrige Gefolgschaft teilnahmslos zusah. Als Xavier sich schließlich abreagiert hatte, richtete er sich zufrieden auf und warf den blutverschmierten Spazierstock einem anderen Leibwächter zu. Dabei fiel sein Blick auf Jonathan und Carnegie. Xavier bedachte beide mit einem langen, kalten Blick, der seine dunklen Brillengläser zu durchdringen schien, bevor die Tore sich schlossen und seine Festung wieder von der Außenwelt abschnitten.
»Wahnsinn«, keuchte Jonathan, während sie davonliefen. »Das war der Horror. Hast du gesehen, wie schnell er sich bewegt hat?«
»Ziemlich flink für einen Rentner«, pflichtete ihm Carnegie bei. »Irgendwas stimmt hier nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.« Er räusperte sich und spuckte in einen Gully. »Dann fassen wir mal zusammen, was wir
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