Die Gilde von Shandar: Die Spionin
Hanri, was gibt es?«, fragte Shalidar gereizt, weil er gestört wurde.
»Einer der Beobachter meldet, dass sich draußen ein junger Mann herumtreibt. Angeblich ist es schon der zweite Tag, dass er das Haus beobachtet. Sollen die Männer ihn hereinbringen?«
Shalidar dachte einen Moment nach. »Nein«, sagte er dann mit einer abwehrenden Handbewegung. »Sie sollen ihn nur davon abbringen, hier herumzulungern, ja? Sag ihnen, sie sollen ihn nicht töten. Sie sollen ihn nur verprügeln. Das wird er schon verstehen.«
»Jawohl, Herr. Ich werde sofort dafür sorgen.«
Femke trommelte mit den Fingern auf dem hölzernen Rand des Bettes herum. Waren es jetzt vierzehn oder schon fünfzehn Tage?, fragte sie sich matt. Seit Reyniks Besuch waren fünf Tage vergangen, aber war sie zuvor schon neun oder zehn Tage im Gefängnis gewesen? Eigentlich war es egal. Sie hatte in der ganzen Zeit keinen Ausweg gefunden.
Schon längst war sie zu dem Schluss gekommen, dass derjenige, der diese Zelle entworfen hatte, seine Sache sehr gut gemacht hatte. Die Tür war stabil und hatte doppelte Riegel und ein kräftiges Schloss. Zwei kleine Metallschieber befanden sich darin, einer in Kopfhöhe, quadratisch und etwa so groß wie Femkes ausgebreitete Hand, und der andere war mehr ein Schlitz kurz über dem Boden. Dort schoben die Wachen zu unbestimmten Zeiten tagsüber oder nachts Teller mit Essen hindurch. Soweit Femke feststellen konnte, gab es keinen festen Zeitablauf oder Rhythmus für ihre Mahlzeiten, aber sie kannte sich ein wenig in der Psychologie aus, die hinter der Behandlung von Gefangenen steckte. Wahrscheinlich war es ein Versuch der Wachen, sie zu verwirren, indem sie ihr das Zeitgefühl nahmen. Sie ignorierte es.
Der Lüftungsschacht in der Decke, durch den tagsüber ein wenig Tageslicht sickerte, schien etwa dreißig Fuß über der Zelle ins Freie zu führen. Er war zu eng, um hindurchzuklettern, und durch feste Eisenstäbe vergittert. Auch das Toilettenloch war eng und vergittert. Luftschacht, Toilettenloch und Tür bildeten die einzigen Ein- und Ausgänge in der Zelle. Femke erkundete alle Möglichkeiten, aber sie fand keinen Weg hinaus.
Das kleine Feldbett hatte sie zuerst auf mögliche Materialien untersucht, die sie zur Flucht benutzen konnte. Sie hatte an der Tür gelauscht, um festzustellen, wann die Wache draußen ihren Mittagsschlaf hielt, und gewartet, bis sie sicher war, ohne Verdacht zu erregen, Geräusche machen zu können. Dann hatte sie das Bett auf die Seite gekippt und alle Verbindungsstellen der Hölzer untersucht. Der Hersteller des Bettes war sehr klug vorgegangen und hatte bei seiner Konstruktion keinen einzigen Metallnagel und keine Schraube verwendet. Das ganze Bett war passend verleimt worden, daher gab es keine kleinen Metallstückchen irgendwelcher Art, derer sie sich hätte bedienen können.
Die Teller, die die Wachen ihr durch den Schlitz schoben, waren auch nicht besser. Femke hatte im Zwielicht der Zelle erfreut die Formen des Bestecks registriert, doch ihre Freude war nur von kurzer Dauer gewesen, als sie feststellen musste, dass Messer und Gabel aus Holz waren. Nirgendwo in der kleinen Kammer befand sich auch nur irgendetwas, mit dem sie wirkungsvoll in den Türschlössern hätte herumstochern können. Ohne Hilfe von außen hatte Femke nichts, was ihr die Flucht in die Freiheit ermöglichen konnte.
Nachdem die junge Spionin erst einmal festgestellt hatte, dass es keine Fluchtmöglichkeit gab, entschloss sie sich, darüber nachzudenken, wie Shalidar ihre Handlungen so gut hatte vorausberechnen können und wie sie beweisen konnte, dass er es gewesen war, der Anton und Dreban getötet hatte.
Sie überdachte die Handlungsabfolge und den zeitlichen Rahmen und rekonstruierte verschiedene Szenarios. Sie ließ ihre eigenen Überzeugungen beiseite und betrachtete die Fakten mit objektivem Sachverstand so, wie sie sich dem König darbieten mussten.
Shalidar schien für beide Morde wasserdichte Alibis zu haben. Was Kalheen gesagt hatte, kurz bevor Femke gefangen genommen worden war, ließ darauf schließen, dass der Killer zur Zeit des ersten Mordes ein Essen in seinem eigenen Haus gegeben hatte, und zu der Zeit, zu der ungefähr der zweite Mord begangen worden war, war er offenbar im Palast gewesen. Wenn Femke Kalheens Aussage als verlässlich betrachtete, bedeutete das, dass Shalidar keinen der beiden Männer hätte töten können. Wenn Kalheen nicht vertrauenswürdig war, dann eröffnete das
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