Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Götter, nehmt diese Verräterin aus unserer Mitte.« Der tatsächliche Befehl war ein wortloser Schrei, vom nassen Krachen der Axt auf dem Holzblock beantwortet.
Dann Salina, aus Rücksichtnahme auf ihr Geschlecht. Dann Larindolian, zu Ehren seiner Kaste. Dann, als Letzter, Bardo.
Rani beobachtete, wie ihr Bruder über die Versammlung hinwegblickte, mit leeren Augen, wie seine Brust sich vor Entsetzen heftig hob und senkte. Er begegnete ihrem Blick, während er sich hinkniete, konnte ihren Blick festhalten, während die Axt erhoben wurde. Shanoranvilli sprach die Worte, und Rani schrie auf, fast als gäbe sie dem Henker seinen Befehl.
Sie stürzte vorwärts, und Jairs Wächter schwärmten um sie herum aus und fingen sie ab, als sie auf den Pflastersteinen zusammenbrach. Als Rani unter dem stockenden Strom des Bewusstseins versank, glaubte sie, das alte Unberührbaren-Weib zu sehen, in die schwarze Kutte eines Wächters gehüllt. Und Mair… Und Borin, den ältlichen Händler, der vor so langer Zeit über sie geurteilt hatte… Alles so lange her, alles in einem anderen Leben… Die Gefolgschaft des Jair, vor der Bardo sie gewarnt hatte, vor der er sie zu retten versucht hatte. Die Gefolgschaft des Jair in neuen Gewändern, ein Dutzend schwärzeste Kleidungsstücke. Rani erinnerte sich absurderweise daran, wie sie auf dem Marktplatz gekauert und Mair einen goldenen Papierstreifen gegeben hatte, der Gefolgschaft des Jair die Macht gegeben hatte, die sie jetzt über sie ausübten, über Bardo.
Dann wurde es Rani schwindelig, alles drehte sich, und sie versank in der Bewusstlosigkeit, während die Axt des Henkers ein letztes Mal auf den Holzblock traf.
16
Rani stand am Fenster des königlichen Kinderzimmers und schaute durch ihr gereinigtes Stück Kobaltglas auf die schneeverwehte Landschaft hinaus. Ein weiterer winterlicher Schneesturm war in der Nacht zuvor durch die Stadt gefegt, und der Haupthof war knietief verschneit. Vereiste Wege waren über den Pflastersteinen festgetreten worden.
»Du wirst nichts ändern, indem du dir dort eine Erkältung holst.«
»Euer Majestät«, brachte Rani teilnahmslos hervor, ohne sich die Mühe zu machen, in einen Hofknicks zu verfallen, während sie den Blick von dem unverglasten Fenster abwandte. Hal war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Trauerkleidung, die er seit einem Monat trug, seit Shanoranvilli in die Himmlischen Gefilde eingegangen war, sich dem unendlichen Kummer über den Verrat ergeben hatte.
»Muss ich dir befehlen, mich bei meinem Namen zu nennen?« Hal sprach leichthin, aber seine Hände lagen fest auf Ranis Schultern, während er sie vom Fenster fortführte. Er schloss die hölzernen Fensterläden und ignorierte bewusst die Lache blauen Glases in ihrer Hand.
»Es tut mir leid, Hal«, murmelte sie. »Ich bin heute Morgen müde – die Pilgerglocke hat die ganze Nacht geläutet, den ganzen Sturm hindurch, und hat mich wach gehalten.«
Er betrachtete sie nachdenklich und traf offensichtlich die bewusste Entscheidung, ihre Wahrheitsliebe nicht herauszufordern. Stattdessen lehnte er sich auf einer der beiden einander gegenüberstehenden Bänke zurück, streckte die Beine aus und legte sie auf die andere Bank. Rani bemerkte unwillkürlich, dass er in den wenigen Monaten seit ihrer Verhandlung um einige Zoll gewachsen war. Wohl kaum eine Überraschung – sie war ebenfalls gewachsen. Die Kinderfrauen mussten ständig neue Kleidung für sie finden, erwachsenere Kleidung. Sie seufzte. Hals Bewegung, die seine neu gewonnene Größe überaus deutlich machte, schnitt ihr jegliche Fluchtmöglichkeit aus der Nische erfolgreich ab.
»Setz dich, Rani.« Er nickte, als hätte er die Erkenntnis in ihren Gedanken gelesen. Er hatte sich während dieses vergangenen Monats angewöhnt, sie bei ihrem Geburtsnamen zu nennen. »Die Kinderfrauen sagen mir, dass du im Schlaf aufschreist. Du störst die Prinzessinnen.«
»Nun, das tue ich gewiss nicht absichtlich!« Ihre Worte kamen hitzig hervor, trotz ihres Vorsatzes, sich die Gunst des Königs von ganz Morenia zu erhalten. »Wir können nicht zulassen, dass Kinder durch Albträume gestört werden, nicht wenn sie in einer Welt leben, die so frei von Verrat und Mord und Lügen ist.« Hal reagierte nicht auf ihre verbitterten Worte, und sie zwang sich, tief durchzuatmen. »Ich kann heute Nachmittag hier verschwunden sein, Euer Majestät. Wenn Ihr mich einfach vorbeilasst…«
»Was siehst du, Rani? Warum schreist du im
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