Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
Physisches. Sie sehnte sich danach, wie sich ein Trinker nach Ale sehnte, wie sich eine Braut nach ihrem Bräutigam sehnte. Dieses Sehnen war es, was Rani fürchtete – nicht Tovin, nicht den Mann.
Sie schluckte ihre Angst und ihr Verlangen hinunter und trat zu dem Strohlager hinüber. Als sie sich auf dem Rand niederließ, war ihr Rückgrat so starr wie Holz. Sie beobachtete, wie Tovin sich wieder dem gekalkten Tisch zuwandte. Er bewegte seine Hände zwischen den dort liegenden Werkzeugen und betastete etwas, bevor er zu ihr herüberkam. Sie hob tapfer und trotzig das Kinn an, als er herantrat.
Er lachte. »Entspanne dich, Ranita Glasmalerin. Ich kann dir nichts nehmen, was du nicht freiwillig anbietest. Atme tief durch.« Er ließ sich neben ihr nieder, stützte sich auf einen Ellenbogen zurück. Sein Gewicht zwang sie, sich auf dem Strohlager zurechtzusetzen, und sie stützte ihre Hände zu beiden Seiten ihres Körpers ab.
»Entspanne dich«, wiederholte er. Sie zwang sich, tief ein- und langsam wieder auszuatmen, und löste ihre Fäuste. »So ist es gut«, sagte er. »Atme ein. Atme aus.« Draußen kreischte ein Kind, schrie vor Lachen, und Rani zuckte zusammen. »Ignoriere die Stimmen«, sagte Tovin. »Lausche auf meine Stimme. Du kannst die Gaukler hören, du weißt, dass sie da sind, aber sie werden dich nicht stören. Sie werden dich nicht ablenken. So ist es gut, Ranita. Atme ein. Atme aus.«
Sie spürte, wie sie den Rhythmus seiner Worte verinnerlichte, spürte, wie ihr Körper zusammensackte, während sie ihre Lungen füllte und wieder leerte. Tovin nickte gemächlich und bewegte dann eine geschlossene Faust zwischen ihnen. »Hier, Ranita. Hier ist das Glas, das du auf dem Tisch geschnitten hast.« Er öffnete langsam die Finger und offenbarte das gebogene Stück durchsichtiges Glas. Langsam, vorsichtig neigte er es ihr zu. »Denk an das Glasschneiden, Ranita. Denk an die Kraft in deinem Handgelenk, während du das Diamantmesser hältst. Kraft, die von deinen Schultern deinen Arm hinab in deine Hand und in deine Finger fließt. Ins Messer.«
Sie beobachtete, wie sich das Licht auf der Oberfläche des geschnittenen Glases kräuselte, erinnerte sich der Kontrolle und Anmut, die sie besessen hatte, während sie die Diamantklinge benutzte. Tovin neigte das Glas noch ein wenig weiter, so dass es das Licht im Raum einfing. »So ist es recht, Ranita. Siehst du das Licht? Siehst du das Glas?«
»Ja.«
»Sehr gut, Ranita. Schau in das Glas. Schau hinein, als wäre es ein Spiegel. Du kannst dich in dem Glas sehen. Siehst du dich, Ranita?«
»Ja.« Rani sah sich auf dem Rand des Strohlagers sitzen, sah Tovin neben sich ausgestreckt.
»Sehr gut, Ranita. Ich werde jetzt bis zehn zählen, und du wirst bei jeder Zahl weiter in den Spiegel hineingelangen.
Greife tief in dich hinein. Tief in den Frieden. Tief ins Hypnotisieren. Eins. Zwei. Drei.«
Rani hörte Tovin mit dem Zählen beginnen. Sie zog sich weiter in das weiße Licht, tiefer in den Teich ruhiger Bewusstheit zurück, den sie mit der Diamantklinge gestaltet hatte. »Neun«, hörte sie ihn sagen. »Zehn.«
Sie war sich bewusst, dass sich ihr Kopf gesenkt hatte, dass ihr Kinn auf dem Spitzenrand ihres Oberteils ruhte. Sie spürte die unglaubliche Last ihrer Arme, so schwer, dass ihre Hände taub und ihre Finger gefühllos waren. Sie spürte das Strohlager unter sich, aber es schien weit entfernt.
»Kannst du mich hören, Ranita?« Tovins Stimme klang klar, scharf, so deutlich wie eine Glasschneide. Sie hörte ihn, und sie hielt an seiner Gegenwart fest, während sie sich gleichzeitig weiter von sich selbst entfernte.
»Ja«, versuchte sie zu sagen, aber sie erkannte, dass sie nur den Mund geöffnet hatte, das Wort nur geformt hatte.
»Sehr gut, Ranita. Du lässt dich sehr gut hypnotisieren. Du besitzt Stärke. Das erkannte ich bereits, als ich dich heute Abend mit Mair sprechen hörte.«
Rani stellte sich den Moment am Fluss vor, stellte sich die herabsinkende Nacht vor. Sie und Mair hatten über die Gefolgschaft gesprochen, über ihren Octolaris-Plan. Geheimnisse. Der Atem stockte in ihrer Kehle, und sie spürte, wie sich ihre Stirn runzelte.
»Nein, Ranita Glasmalerin. Bleib beim Hypnotisieren. Bleib im Spiegel. Du bist hier sicher. Du musst mir nichts erzählen, was du nicht erzählen willst.«
Rani ließ sich von seinen Worten beruhigen. Sie ließ sich wieder in die weiße Behaglichkeit gleiten, in das schwerelose, nebelhafte Reich in dem
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