Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Priester, sonst werdet Ihr von diesem Verfahren ausgeschlossen. Wir brauchen Euch nicht als Zeugen aufzurufen. Wir haben genug gegen Euren Schützling vorzubringen, und alle hier wissen, dass Ihr befangen seid.«
Dennoch wirkte der arme Siritalanu, als wollte er weiterhin Einspruch erheben, als wollte er Torio sagen, dass solche Regeln offenkundig unfair waren. Nein, wollte Berylina zu ihrem Beschützer sagen. Es hat keinen Sinn zu argumentieren. Torio hatte seine Meinung bereits gefällt, ohne den Widerstand einer Kurie. Ohne die Notwendigkeit seiner Folterwerkzeuge.
Wie Berylina schien auch Ranita Glasmalerin das Stück zu verstehen, in dem sie agierten. Die Gildefrau schüttelte zögerlich den Kopf, trat zu Pater Siritalanu und legte ihm eine Hand auf den Arm. Als der Priester nicht reagierte, beugte sie sich mit größerer Dringlichkeit zu ihm. Berylina konnte erkennen, dass die Geste zwei Ziele verfolgte – Rani zog den Priester näher an sich heran, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, aber sie stützte sich auch schwer auf ihn.
Arme Ranita. Berylina konnte selbst von der anderen Seite des Raumes aus erkennen, dass sie erschöpft war. Sie musste so verängstigt gewesen sein, als sich Berylina von ihr hypnotisieren ließ. Sie musste erschrocken gewesen sein, als Berylina die Macht der Götter in ihr auslöste. Berylina fragte sich jetzt selbst, wie sie die Kraft gefunden hatte, wie sie die Macht gelenkt hatte. Sie war immerhin keine Priesterin – nicht einmal eine wahre Caloya.
Und doch waren die Götter während der Hypnose zu ihr gekommen. Sie hatte sie tief in ihrem Geist gespürt, Rang auf Rang. Sie konnte diejenigen mit Farben sehen, diejenigen mit Düften riechen. Geschmäcker und Klänge und Empfindungen – alle waren in ihrem Geist dargelegt wie Bände auf den Regalen in König Halaravillis geschätztester Bibliothek.
Sie hatte gewusst, dass sie, wenn sie Ranita einfach so berührte, das Geheimnis jener Ränge weitergeben konnte. Berylina hatte sie aus sich herausgleiten spüren, den Raum durchqueren spüren wie eine Flamme, die auf eine edle Bienenwachskerze überspringt. Der Moment dieser Verbindung hatte Berylina erstarren lassen, hatte ihren Körper und Geist gelähmt. Sie hatte die Macht aus sich herausspringen, aber dann hundertfach zurückkehren spüren, knospend, blühend…
»Ich fragte, ist es wahr, dass Ihr eine heilige Reliquie vom Altar des Ersten Pilgers Jair gestohlen habt?«
Der Schreck ließ Berylinas Aufmerksamkeit jäh zur Kurie zurückkehren, in den großartigen Raum, zu Siritalanus und Ranis ängstlichen Blicken und Torios wütendem Brüllen. Sie blinzelte und verkrampfte die Hände in ihrem Gewand, versuchte, sich zu erinnern, was der Priester sie gerade gefragt hatte, was er wissen wollte.
»Bitte«, sagte sie, und der Klang dieses einen, an ihren vorstehenden Zähnen vorbeischlüpfenden Wortes machte sie verlegen. »Die Kugel kam zu mir. Sie rollte in meine Hände. Ich habe nur die tausend Reliquien gezählt, meine Gebete dargeboten.«
Es gelang Berylina, den Blick von ihren verkrampften Händen zu erheben, und sie war überrascht, eine alte Frau auf dem Podest stehen zu sehen, welche die Balustrade umfasste. Das war die zornige Frau, diejenige, die Berylina in Jairs Haus solche Abneigung entgegengebracht hatte. Diejenige, die sie in Mips Tempel eine Hexe genannt hatte.
Nun war das Wesen in die dunkelsten Pilgergewänder gekleidet und schien sich einen größeren, gewichtigeren Tausendspitzigen Stern geborgt zu haben. Die alte Frau deutete mit einem knochigen Finger auf Berylina und sagte: »Sie lügt, diese lügt. Sie gibt vor, den Göttern zu lauschen, um die Aufmerksamkeit der Priester zu stehlen. Sie handelt, als sprächen die Tausend zu ihr, als kämen sie zu ihr, so besonders wie sie ist. Sie benutzt ihre Macht als Ausrede. Sie berührte die heiligen Reliquien Jairs. Sie legte Hand an das Spielzeug des Ersten Pilgers, an die Kugel, die in der Mitte seines Altars lag.«
Die Menge keuchte entsetzt, und Berylina schrie unwillkürlich auf: »Nein! Ich habe nicht die Hand danach ausgestreckt. Sie kam zu mir! Sie rollte über den Altar in meine Hände!«
»Sie ist eine Hexe, das sage ich Euch«, rief die alte Frau. »Eine Hexe! Wie sonst könnte sich die Reliquie bewegen? Wie sonst könnte sie dazu berufen werden, über einen vollkommen ebenen Altar zu rollen? Sie behauptete, für Jair zu sprechen, um die Priester zu kritisieren, die seinen Tempel hüten!«
Torio
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