Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
gut.
»Tretet vor!«, befahl der Priester in der Mitte. Berylina folgte dem Befehl, trat von ihren Wächtern fort. Sie wagte einen Blick auf den Hauptinquisitor, und sie erkannte, dass er die grünen Gewänder eines Priesters trug. Jene Gewänder waren jedoch beschattet, von einem fahlbraunen Übergewand bedeckt. Ein rascher Blick bestätigte ihr, dass alle Mitglieder der Kurie dieselbe unheilvolle Kombination trugen – die grüne Erklärung des Glaubens, von der erdigen Bedrohung der Strafe überlagert.
Berylina rang vor diesem Bild um ihr Leben. Die ultimative Strafe, welche die Kurie festsetzen könnte, war der Tod. Der Tod unter der Erde. Der Tod abseits der Reinigung der Flamme. Ewiger Tod.
»Ich bin Torio, Prälat dieser Kurie. Ich werde meine Brüder bei dem heutigen Urteil über Euch anleiten, bei dieser ernsten Angelegenheit, bei der Ihr als Hexe bezeichnet werdet. Nennt Euren Namen, damit unser Schreiber ihn in das Verzeichnis über diesen Vorgang eintragen kann.«
Berylina schluckte schwer. Also Torio. Er wäre ihr Richter. Er würde darüber entscheiden, ob ihr Albtraum Realität würde. Sie lebte schon lange genug in Morenia, dass es ihr seltsam schien, dass ein Priester einen solch kurzen Namen hatte. Fünf Silben, dachte sie. Sein Name sollte sich über fünf Silben erstrecken.
Sie wusste, dass sie sich keine Gedanken über solch törichte Belange machen sollte. Sie sollte die Kurie unmittelbar ansehen. Sie sollte ihnen mit der grimmigen Akzeptanz begegnen, die sie am morenianischen Hof beherrschen gelernt hatte. Sie sollte sich wie eine Prinzessin verhalten. Wie die gelassene, junge Frau, die sie geworden war.
Aber alle jene Lektionen waren aus ihrer Seele verbannt, mit den kurzen, keuchenden Atemzügen aus ihrem Körper gepresst, die ihre Lungen vereinnahmten. Sie konnte Torio nicht direkt ansehen. Sie war auf die Seitenblicke beschränkt, die ihre Kindheit erfüllt hatten. Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund dick an, und die vorstehenden Zähne schienen so viel Raum einzunehmen, dass sie niemals Worte daran vorbeizwingen könnte. »Berylina Donnerspeer«, gelang es ihr schließlich zu sagen, die Worte hervorzwingend wie giftige Früchte.
»Ihr werdet aufgrund der ernstesten Anschuldigung vor diese Kurie berufen, die gegen einen Pilger vorgebracht werden kann, die ernsteste Anschuldigung in ganz Brianta. Ihr werdet eine Hexe genannt, und Ihr seid aufgefordert, Rechenschaft über die Reinheit Eures Körpers und Eurer Seele abzulegen.«
Nein!, wollte Berylina rufen. Ich bin keine Hexe! Das ist eine Lüge.
Sie brachte jedoch keinen Laut hervor. Sie konnte sich nur im Raum umsehen, zu Torio und seinen Gefolgsleuten blicken, zu den zu beiden Seiten aufgereihten Wächtern, zu den Menschen, die eifrig und neugierig zusahen. Sie konnte nur Ranita Glasmalerin und Pater Siritalanu ansehen, die hilflos vorne im Raum standen.
Torio wartete, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihm und seinen Kollegen zuwandte. »Wofür plädiert Ihr, Berylina Donnerspeer? Seid Ihr eine Hexe?«
Proteste pochten in ihrem Kopf, Argumente und gelehrtenhafte Entkräftungen. Natürlich war sie keine Hexe. Konnte eine Hexe die Namen der Tausend Götter nennen? Konnte eine Hexe die Erscheinung eines jeden Gottes beschreiben? Konnte eine Hexe zu jedem Heiligtum in Brianta reisen, Opfer darbringen, Altäre betrachten, ihre Seele unmittelbar den Tausend Göttern weihen?
»Verschwendet nicht Eure Zeit, Berylina Donnerspeer! Ihr müsst Euch verteidigen. Seid Ihr eine Hexe?«
Ihr Vater hatte sie so gescholten. Er hatte sie vor seinen Hof in Liantine gebracht und gezwungen, vor seinen Adligen zu sprechen. Sein Gesicht hatte sich vor Scham für sie verzogen, vor Hass darauf, dass ihre Geburt seine geliebte Frau das Leben gekostet hatte. Berylina war vor diesen Auftritten zurückgeschreckt, hatte sich gewünscht zu verschwinden, sich vor dem liantinischen Hof aufzulösen.
»Ich frage Euch ein letztes Mal, Berylina Donnerspeer! Beansprucht Ihr die Bezeichnung Hexe?«
»Nein!«, rief Pater Siritalanu. »Sie ist keine Hexe! Sie ist die heiligste Pilgerin, die ich je gesehen habe, die gläubigste Frau, der ich je begegnet bin.«
»Ruhe, Priester!«
»Nein«, gelang es Berylina schließlich zu antworten, aber ihr Wort war im Aufruhr der Menge über Torios Tadel gegenüber einem gewandeten Priesters verloren. »Nein«, flüsterte sie in den Tumult hinein.
Torio deutete mit einem dicken Finger auf Siritalanu. »Ihr werdet schweigen,
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