Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
welches Lob erhielt, wer welche Farben mahlen durfte. Jetzt, in Brianta, hatte Rani eifersüchtig beobachtet, wie Parion Larinda unterstützte.
Sie wollte das Muster von Larindas Meisterstück sehen. Als Rani jedoch einen Schritt zurücktrat, um einen Blick auf den Tisch ihrer Gegnerin zu werfen, fing sich das flackernde Fackellicht an Larindas Händen. Rani konnte das dumpfe Schimmern von Metall ausmachen, die leichte Kräuselung von Leder und Seide.
Rani wandte ihre Aufmerksamkeit beschämt wieder ihrer eigenen Arbeit zu. Sie ermahnte sich, sich auf ihre Zeichnungen zu konzentrieren, auf die Studien von Lor, die sie beendet hatte. Sie dachte daran, wie sie den Gott beim ersten Mal zu dick gezeichnet hatte. Sie ermahnte sich, angemessenen Raum für die Bleifassung zu belassen, einen schmalen Rand für das Diamantmesser.
Sie arbeitete vollkommen fehlerfrei. Ein Teil ihres Geistes bemerkte, dass sie sich wie tief in einer Hypnose bewegte – ihre Finger arbeiteten mit einer Zuversicht, einer Sicherheit, einer Gewissheit, die sie niemals zuvor erlebt hatte. Die Zeichenkohle fühlte sich glatt an, aber sie erkannte ihre verborgene Form, ihre Struktur. Sie wusste, dass sich an der Seite ein Schwachpunkt befand, unmittelbar unter ihrem Zeigefinger. Wenn sie zu viel Druck ausübte, würde der Stift brechen und sie würde ihre Konzentration verlieren, ihre Kontrolle verlieren. Sie entspannte ihre Finger ein wenig, schüttelte ihre Hand, vermied das Problem.
Anscheinend war keine Zeit vergangen, und doch betrachtete sie die vollständige Zeichnung Lors. Seine Augen sahen sie an, einfach und direkt. Ein Stoffballen lehnte an seinen Beinen, ein üppiges Symbol seines Wohlstands.
Rani richtete sich auf und spürte überrascht, dass ihre Rückenmuskeln verkrampft waren. Sie hatte nicht erkannt, wie lange sie über dem Tisch gekauert hatte. Sie legte die Zeichenkohle hin und schüttelte ihre Finger aus, sehnte sich danach, dass das Gefühl wieder vollständig zurückkehren, wünschte sich, dass das Kribbeln aufhören würde, das sie seit Wochen quälte.
Die übrigen Gesellen hatten ihre Zeichnungen natürlich längst beendet. Als Rani sich umsah, erkannte sie, dass mehrere der ihr Gleichgestellten am anderen Ende des Raumes standen, wo sie sich einen Teller mit frisch gebackenem Brot nahmen. Cosino schaute auf und begegnete ihrem Blick. Er hielt ein Stück Brot hoch, als wollte er ihr einen Anteil des Festessens anbieten.
Ranis Magen verkrampfte sich. Wann hatte sie zuletzt gegessen? Heute Morgen gewiss nicht, und gestern Abend auch nicht – sie war mit Mair durch die Straßen der Stadt gestreift. Dann gestern Morgen? Nein, sie hatte zum Gildehaus kommen wollen, hatte dort etwas essen wollen, wo sie ihre Schwüre einhalten konnte, aber sie hatte sich schon vor Sonnenaufgang von Mair mitziehen lassen.
Nun betrachtete sie das Brot sehnsüchtig, aber sie erkannte, dass sie keine Zeit verschwenden durfte. Nach der Prüfung wäre Zeit genug zum Essen. Sie hätte ein Leben lang Zeit für Brot, wenn sie erst eine Meisterin war. Wenn sie eine Meisterin wurde. Sie schüttelte an Cosino gewandt den Kopf und zwang sich bei der resignierten Geste zu einem kleinen Lächeln.
Dann trat sie zu den großen Glasbehältern auf der anderen Seite des Raumes. Dies war ein Zugeständnis der Gilde für ihre Ein-Tages-Prüfung. Gesellen mussten nicht ihr eigenes Glas gießen, mussten nicht darauf warten, dass es abkühlte. Sie mussten nicht die Glastafeln mit Silberfärbemittel bearbeiten, mit anderen Farbstoffen. Stattdessen konnten sie farbige Tafeln aus dem Lager der Gilde benutzen.
Alle Gesellen hatten jene Tafeln während den der Prüfung vorangehenden Tagen durchforstet. Rani konnte alles Verfügbare benennen, die Farben und die Strukturen. Sie hatte große Sorgfalt darauf verwandt, ihre Möglichkeiten gelassen zu ergründen, damit keiner der übrigen Glasmaler erkennen würde, was sie bevorzugte. Rani wäre nicht überrascht, wenn einige ihrer Kameraden am Morgen bewusst begehrte Tafeln erwählt hätten, wenn sie das Karmesinrot erwählt hätten, das perfekt zu Lors Gewändern passte, die makellosen weißen Tafeln, die sie zu einem Ballen Seide zu schneiden gedachte.
Nun, im Rückstand zu ihren Kameraden, musste Rani sorgfältig wählen. Sie musste ihre kostbarsten Stücke zuerst wählen, und dann für die weniger kostbaren Schattierungen auf die gewöhnlicheren Tafeln zurückgreifen. So. Sie hatte das Grau für Lors Augen errungen.
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