Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Meister und Gesellin seufzten gleichzeitig, und dann machte sich Rani an die Aufgabe, ihr Glas zu schneiden.
Das Diamantmesser glitt zwischen ihren Fingerspitzen dahin. Sie hatte ihre Technik in den Jahren, seit Tovin ihr das Werkzeug zum ersten Mal gezeigt hatte, perfektioniert. Nun drückten ihre Finger mit dem genauen Gewicht darauf. Ihr Handgelenk nahm kleinste Angleichungen vor, während sie die Linien ihrer Zeichnung nachzog. Sie spürte eine kleine Luftblase im Glas und entspannte ihre Finger automatisch, ließ das Messer durch die schwache Stelle gleiten.
Ihre Arbeit war nicht makellos. Als sie Lors Augen zum ersten Mal zurechtschnitt, drückte sie in dem Versuch, die Augen perfekt zu gestalten, zu fest zu. Das graue Glas zerfiel unter ihrer schweren Hand zu Staub, und sie unterdrückte einen Fluch. Das Karmesinrot für die Gewänder des Gottes war geflammt. Ein Stück des tief karmesinroten Glases war beim Mischen klar geblieben, so dass die Farbe nicht überwog. Rani vergaß, dass das Mischen fehlerhaft sein konnte, und wurde bei ihrem ersten Versuch mit zerbrochenen Fragmenten bestraft. Ihr erster Schnitt für den Ballen Seide hinterließ unten in der Mitte des Stückes einen breiten Streifen Orange. Es wirkte, als wäre der Stoff fleckig.
Sie arbeitete dennoch rasch und gründlich weiter. Sie stapelte die heilen Stücke auf ihrem gekalkten Tisch, schichtete sie sorgfältig auf. Zweimal schnitten ihr Glasränder in die Finger und hinterließen winzige Blutspuren. Ein Mal rutschten Ranis kribbelnde Finger an dem Eisengriff des Diamantmessers aus, und sie fügte sich einen brennenden Schnitt zu. Sie bemerkte die Wunden jedoch kaum – sie gehörten zum Leben eines Glasmalers, zu der Gilde, der Rani so unbedingt beitreten wollte. Sie wischte sich die Hände an ihren Gewändern ab und arbeitete weiter.
Schließlich hatte sie das Zurechtschneiden beendet. Einem lange bestehenden Brauch innerhalb der Gilde gemäß, musste sie das unbenutzte Glas in die Behälter zurückstellen – es gab immer andere Glasmaler, die ihre Reste vielleicht brauchen konnten. Sie sammelte die Stücke rasch ein und beförderte sie vorsichtig durch den Raum.
Ihre Finger kribbelten, als sie die Tafelteile wieder in die Behälter stellte. Sie fühlte sich, als hätte sie seit Stunden gekeucht. Sie musste sich ermahnen, ihre Lungen mit einem vollständigen Atemzug zu füllen. Als sie wieder zu ihrem Tisch zurückging, schien es ihr, als folgte ihr Kopf ihrem Körper zu langsam.
Sie sah, dass auch die übrigen Gesellen ihr Glas zu Ende geschnitten hatten. Mehrere versammelten sich am anderen Ende des Raumes. Das Brottablett war von Schalen Obst ersetzt worden. Belita und Cosino plauderten tatsächlich miteinander. Belita strich mit der Hand über Cosinos Arm, und die beiden lachten. Der belustigte Klang wehte durch den Raum und brachte den Duft der Pfirsiche in der Schale zwischen den Gesellen mit sich. Rani lief das Wasser im Mund zusammen.
Nim, der Gott des Windes – er schmeckte nach Pfirsich.
Nein, schalt sie sich. Noch nicht. Sie würde sich nach der Prüfung Gedanken über Berylinas Ableben machen.
Sie ignorierte das Essen und kehrte an ihren Tisch zurück. Parion stand über ihre Zuschnitte gebeugt und betrachtete sie mit dem Auge des Meisters. Ihre erste Reaktion bestand darin, aufschreien und ihn fortschicken zu wollen. Sie ermahnte sich jedoch rechtzeitig und wartete besorgt ab, während er das Glas betastete.
Er hob auch das Diamantmesser an, prüfte es mit stark vernarbtem Daumen. Dann, während sie niedergeschlagen zusah, streckte er die Hand nach ihr aus, so dass sein Ärmel zurückrutschte. Die kreuz und quer verlaufenden Narben waren im Fackellicht deutlich zu sehen. Die erhobene Haut war bläulich, als wäre sie gerade erst von den Männern des morenianischen Königs eingeschnitten worden. Parion legte das Diamantmesser an seine abgestorbene Haut an, als könnte er die Klinge auf diese Art besser ermessen.
Rani hielt seinem Blick stand, verweigerte sich der Erinnerung, wie er jene Narben erworben hatte, verweigerte sich dem Eingeständnis, wie sie dazu beigetragen hatte. Schließlich nickte Parion und legte das Diamantmesser wieder auf den Tisch.
Ranis Hände bewegten sich, als würden sie von jemand anderem geführt. Es war an der Zeit, die Metallfolie um die Ränder ihrer Stücke zu schlingen und mit einem von Tovins Werkzeugen glattzudrücken. Sie musste die Folie im Interesse der zeitlich begrenzten
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