Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
verengte Parion die Augen – er erkannte, dass er eingenommen wurde, dass er manipuliert wurde. Und doch beschloss er, sich eher dieser Manipulation zu beugen, als sie zu schelten. Was konnte er immerhin mehr von ihr zu bekommen hoffen als diese Offenheit? Welche bessere Antwort konnte er ersehnen als ein ehrliches Eingeständnis?
Parion nickte gemächlich und deutete dann auf den leeren Tisch neben Larinda. »Gut. Geh an die Arbeit. Du hast Zeit bis Sonnenuntergang, wie alle anderen Gesellen. Du bekommst keine zusätzliche Zeit.«
Rani nickte. Die Strafe war angemessen. Sie hatte nichts Besseres erwartet.
Die Glasmaler führten ihre Prüfung anders durch als andere Gildeleute. Andere Meister prüften die Anhäufung des Könnens ihrer Gesellen. Sie erlaubten ihren Mitgliedern, tagelang, wochenlang, monatelang zu arbeiten – alles mit dem Ziel, ein perfektes Werk zu erschaffen.
Die Glasmaler begriffen jedoch, dass im Laufe der Zeit viel geschehen kann. Meister konnten Gesellen über die akzeptierten Grenzen hinweg helfen. Vollendete Arbeiten konnten von fernen Ländern gekauft und als Prüfungsarbeiten ausgegeben werden. Gesellen konnten sich untereinander verschwören, um sich mit Projekten zu helfen, sich über die übliche Unterstützung für Gildekameraden hinwegzusetzen.
Und so prüften die Glasmaler ihre Gesellen nur an einem Tag. Von einem Sonnenaufgang zu einem Sonnenuntergang. Die Gildeleute wurden beobachtet, studiert, genau geprüft. Keine Fehler wurden gemacht. Keine Lügen konnten erzählt werden.
Rani spürte aller Augen auf sich, während sie zu ihrem Tisch trat. Sie legte ihr Pilgergewand ab, faltete es sorgfältig und hob den Tausendspitzigen Stern an die Lippen, bevor sie das Kleidungsstück auf den Boden legte. Rund um sie herum kehrten die übrigen Gesellen an ihre Arbeit zurück, wollten hektisch so viel wie möglich vollbringen, bevor die Prüfung endete. Nur Belita nahm sich einen Moment Zeit, um ihr zuzulächeln, aber auch die zarithianische Gesellin verschwendete keine weitere Zeit mit einer unterstützenden Geste.
Rani beugte den Kopf und atmete bewusst tief durch. Sie musste mit klarem Geist an diese Prüfung herangehen. Keine Berylina. Kein Laranifarso, keine Mair. Kein Tovin. Nur Rani, ihr Muster und ihr Glas.
»Mögen all die Götter wohlwollend auf mein Handwerk herniederblicken, und mögen sie Gefallen an der bescheidenen Kunst finden, die meine Hände erschaffen. Möge Jair selbst sich an meiner bescheidenen Gabe erfreuen, und mögen auch meine geringsten Arbeiten der Welt zur Ehre gereichen. Mögen meine Arbeiten mich dem Willen der Götter gemäß zum angemessenen Zeitpunkt in die Himmlischen Gefilde führen. Lobpreiset die Tausend Götter.«
Die Worte kamen ihr mühelos von den Lippen, denn sie hatte sie im alten Gildehaus jeden Morgen gesprochen. Beim Aufstehen, beim Beginnen eines Projektes, beim Niederlassen zu einer Mahlzeit oder zum Schlafen. Rani hatte das Gebet so oft gesprochen, dass sie die einzelnen Sätze kaum noch hörte.
In der Hoffnung, dass Clain sie gehört hatte, und mit Furcht, sich auszustrecken und zu sehen, ob der kobaltfarbene Gott im Raum war, hob Rani das Leinentuch an, das ihren gekalkten Tisch bedeckte.
Weiß. Blendendes, frisch geweißtes Holz.
Der Tisch war wie Berylinas Vision von Jair, wie das Bild der Prinzessin von dem Ersten Pilger selbst. Nein, schalt Rani. Keine Berylina. Sie musste sich auf den Tisch vor ihr konzentrieren. Sie musste ihr pochendes Herz ignorieren, ihre kalte, trockene Haut ignorieren. Sie musste das Kribbeln in ihren Handflächen ignorieren und den Schmerz hinter ihrer Stirn. Sie musste wie eine Glasmalermeisterin handeln. Sie musste ihre Prüfung vollenden.
Sie biss sich auf die Zunge, nahm ihre Zeichenkohle auf und begann zu zeichnen.
Zunächst war sie sich jedes Geräuschs im Raum bewusst. Sie erkannte, wann Parion einatmete und wann er ausatmete. Sie erkannte, wann einer ihrer Gesellenkollegen seinen Kohlezeichenstift zerbrach. Sie erkannte, wann ein Lehrling von einem Fuß auf den anderen trat, wann ein Meister aus dem düsteren Raum tappte.
Neben ihr arbeitete Larinda. Rani widerstand der Versuchung, ihre Mitgesellin zu beobachten. Damals, als sie in der alten Glasmalergilde arbeitete, hatte sie sich mit Larinda verglichen. Sie hatte die Holzstücke ermessen, die eine jede zur Küche trug. Sie hatte die Töpfe mit Haferschleim gezählt, die eine jede umgerührt hatte. Sie hatte ausgerechnet, wer genau
Weitere Kostenlose Bücher