Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
wollte er ihr Caloyagewand mit seinem Blick verbrennen. Seine Hände bewegten sich in einem neuen, verdrossenen Muster, eines, das sie dieses Mal erkennen konnte – es war eindeutig eine Entlassung. Sie umfasste ihre Röcke, benutzte die alte Geste ihrer Kindheit.
Nein, ermahnte sie sich. Sie war keine unbeholfene, liantinische Prinzessin mehr. Sie war eine Pilgerin, die ihre lange Reise im Dienste an den Tausend Göttern begann.
»Gleich, Pater, werde ich gehen.«
»Gleich!«
»Ja, Pater. Wenn es Euch recht ist, wenn es allen Hütern des Pilgerweges recht ist, möchte ich heute meine Pilgerrolle beginnen.«
»Deine Pilgerrolle!« Der Mann hätte ebenso gut noch nie von diesem Instrument des Glaubens gehört haben können.
»Ja, Pater. Ich möchte im Dienst an den Tausend Göttern reisen, wenn es Euer Gnaden recht ist.«
»Es wäre mir recht«, grollte der Priester, aber dann fing er sich, bevor er härtere Worte äußern konnte. Er sah Berylina finster an, und sie erkannte, dass er sie weit fort wünschte.
Die Menge drängte jedoch voran. Vier Pilger rangen um den Platz hinter Berylina, als warteten sie auf ihre eigenen Pilgerrollen. Diese Männer trotzten der Tradition, denn sie waren alle stämmige Soldaten, mit einer wuchtigen Faust auf ihrem Dolchheft. Pilger durften keinen Stahl tragen. Nun, Pilger durften auch niemanden der Hexerei beschuldigen.
Ein Mann sagte: »Wir haben das Mädchen in Jairs Tempel beobachtet. Sie betete auf Knien wie jeder andere auch.« Die Menge murmelte.
Ein weiterer Mann fügte hinzu: »Der Tempel ist dunkel. Es sollten dort mehr Kerzen brennen.«
Die anderen beiden Männer nickten nur, aber sie verlagerten die Hände an ihren Waffen, konnten so ihr unheilvolles Missfallen verdeutlichen. Der cholerische Priester erbleichte.
Er sah Berylina finster an, und sie flüsterte: »Bitte, Pater. Unterzeichnet einfach meine Pilgerrolle, und ich bin fort.«
Schwer schluckend und die Männer beäugend, wollte der Priester noch etwas zu Berylina sagen, einen weiteren Protest anbringen. »Im Namen Jairs und allem, was heilig ist«, sagte sie und sank auf die Knie, »erlaubt mir, meine Sünden abzubüßen, Pater. Erlaubt mir, im Namen all der Tausend Götter zu lobpreisen. Erlaubt mir, die Wege zu finden, die der Erste Pilger Jair für mich gestaltet hat. Gestattet mir, mein ganzes Leben lang in seiner Gnade und seiner Sicherheit und seinem Schatten zu wandeln.«
Die Worte waren Teil einer alten Formel, ein Gebet, das Berylina vor langer Zeit von ihren Kindermädchen gelernt hatte. Sie hatte gewusst, dass sie Teil der zeitlosen Macht der Religion in Brianta waren, welche die Priester die Schulkinder hier vor Jahrzehnten gelehrt hatten, bevor Berylina vom königlichen Haus von Liantine auch nur erdacht war.
Etwas an den Worten wirkte Magie. Die Formel besänftigte den Priester, ließ ihn den Überschwang der Pilgerin vor ihm erkennen. Berylina mochte ihn geängstigt haben. Sie mochte die kämpferischen Männer inspiriert haben, welche die versammelten Massen finster ansahen. Sie mochte die Ordnung im Leben des alten Mannes gestört haben. Aber sie sprach die Worte der Gläubigen. Sie umarmte die religiöse Wahrheit, wie er sie kannte.
Sie beobachtete, wie sein Zorn dahinschmolz, und erkannte den genauen Moment, in dem er beschloss, ihr zu helfen. Sie wollte ein Dankgebet flüstern, war sich aber nicht sicher, welcher der Tausend Götter sich für sie verwendet hatte, welcher zu dem in die Enge getriebenen Mann durchgedrungen war. Um keinen der Tausend zu kränken, verlegte sie sich darauf, im Geiste ein Gebet an Jair zu richten, an den Ersten Pilger, der ihre Schritte entlang dieses unsicheren Weges geleitet hatte. Sie verwob ihre Finger unbeholfen zu einer briantanischen Geste der Dankbarkeit.
Der Priester streckte die Hand zum Boden neben seinem thronähnlichen Stuhl aus. Ein reich verziertes Kästchen ruhte auf einem Gold durchwirkten Polster zwischen vier verschwenderischen Quasten. Die Seiten des Kästchens waren mit gepunztem Gold bedeckt, und komplizierte Emaillemuster wanden sich über das glänzende Metall. Berylina registrierte blitzartig die Gemälde, die das Leben Jairs zeigten, ein passender Anfang für Berylinas eigene, offizielle Pilgerreise.
Der Priester hob den Deckel des goldenen Kästchens an und nahm ein Blatt Pergament hervor. Während der heilige Mann das Dokument vor der versammelten Menge präsentierte, entnahm er dem Kästchen noch einen edlen Federkiel und
Weitere Kostenlose Bücher