Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
wollte?
Sie würde sich einfach auf andere Götter konzentrieren müssen. Auf Götter, welche die Vorstellung des Wandels umfassten, Götter, die die Essenz, die sie ersehnte, übermitteln würden.
Der alte Priester sah sie finster an und fragte erneut: »Wer ist der erste Gott, den du ehren willst?«
Berylina ballte die Hände zu Fäusten und verkündete: »Ile.« Der Gott des Mondes. Der Gott, der sein Gesicht am Himmel endlos veränderte, der über die Ebbe und Flut der Gezeiten herrschte, über die Zyklen ihres weiblichen Körpers.
»Ile«, sagte der Priester, und wenn er ihre Wahl seltsam fand, sagte er es nicht. Stattdessen tauchte er seinen großen Federkiel wieder ins Tintenfass und trug den Namen des Gottes auf ihrer Pilgerrolle ein.
Als der Priester das Wort aufschrieb, spürte Berylina, wie ihre Nase vom Duft frisch gemähten Heus erfüllt wurde. Iles Duft überflutete die Rückseite ihrer Kehle, als ertrinke sie in einem Meer grün-goldenen Grases. Der Priester intonierte: »Gehe hin im Namen Iles, und lerne die Art dieses Gottes. Lerne, ihn zu ehren und ihm recht zu tun, und möge er dich dein restliches Leben lang segnen.« Der grasartige Geruch wurde noch stärker, und Berylina sehnte sich danach, für immer den Atem anzuhalten, zwang sich aber, gleichmäßig auszuatmen, während sie mit den Fingern ein heiliges Zeichen vollführte.
Der Priester schien es nicht zu bemerken. Er hielt kaum inne, bevor er fragte: »Und dein zweiter Gott?«
»Mip, der Gott des Wassers.« Berylina hatte auf ihrer Überfahrt von Liantine nach Morenia das Meer studiert. Sie hatte den Stein studiert, der sich unter der Traufe ihres Palastraumes befand. Sie hatte das glatte, vom beständigen Tropfen von Regenwasser hineingebohrte Loch gesehen. Sie hatte die Ufer von Flüssen und Klippen gesehen, die hoch über sich dahinwindende Ströme aufragten. Wasser hatte große Macht, die Welt um sich herum zu verändern, auch den härtesten Grund zu gestalten.
Dieses Mal sah der Priester sie seltsam an. Berylina wandte nur den Kopf zur Seite und hielt ihn mit einem Auge fest, machte es ihm leichter, sie zu betrachten, ihren Wunsch zu gewähren. »Mip«, sagte der Priester und schüttelte den Kopf. Welches Kind würde eine Pilgerreise im Namen Mips anbieten?
Dennoch schrieb der Priester den Namen auf und fügte sein heiliges Siegel hinzu. Das Schaben des Federkiels löste Vogelgesang aus, das kunstvolle Trillern einer Nachtigall, das sich über dem Hof ausbreitete. Der Klang war so rein, so perfekt, dass Berylina aufschaute, Pater Siritalanu anblickte, all die versammelten Pilger anblickte, um zu sehen, ob sie den Vogel auch hören konnten.
Nichts. Mip sprach zu ihr allein. Wie all die Götter, bot er ihr ein persönliches Gesicht dar, dem sie huldigen konnte. Der Priester sprach rasch seine Formel: »Gehe hin im Namen Mips, und lerne die Art dieses Gottes. Lerne, ihn zu ehren und ihm recht zu tun, und möge er dich dein restliches Leben lang segnen.« Berylina beugte ihre Finger rasch zur Geste der Ergebenheit.
Die Nachtigall trillerte noch einmal und schwieg dann. Als fürchtete der Priester eine weitere seltsame Antwort, atmete er tief ein, bevor er fragte: »Dein dritter Gott?«
»Nim, der Gott des Windes.« Die Menge murmelte.
Berylina hatte sich wegen dieser Wahl geprüft. Veränderte der Wind die Welt immerhin genauso wie Wasser? Berylina hatte eine lange Weile befürchtet, sie wähle Nim nur wegen Königin Mareka, wegen der Macht, die der nach Pfirsich schmeckende Gott bei der Beerdigung der beiden kleinen Prinzen auf ihrer Zunge ausgebreitet hatte.
Aber dann hatte sie über die Veränderungen nachgedacht, die sie gesehen hatte, in der Welt um sie herum vom Wind bewirkt. Einmal, als sie ein Kind war, war eine Wasserhose vom Meer herangekommen. Sich endlos drehend, war sie über den Palast ihres Vaters hinweggefegt, hatte alle Rosenbüsche aus dem Garten gerissen und eine Glaswand der königlichen Empfangshalle zerschmettert. Teheboth Donnerspeer hatte beschlossen, die Glasarbeit nicht zu ersetzen. Stattdessen hatte er eine Holzabtrennung anfertigen lassen. Diese Abtrennung war im Hause Donnerspeer die erste Verbindung zur Gehörnten Hirschkuh, der erste Hinweis darauf, dass die Tausend Götter ihren Halt in Liantine verloren. Alles wegen Nim… Alles, weil der Gott des Windes eines Morgens einen Wutanfall bekam.
Der alte Priester neigte den Kopf auf eine Seite, aber er notierte den Namen auf ihrer Pilgerrolle.
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