Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Geschichte darüber zurechtgelegt.«
»Ich habe ihm nie einen Grund gegeben…«
»Rai, du redest mit mir. Du brauchst hier nich deine Märchen zu verbreiten.«
»Es sind keine Märchen! Es ist die Wahrheit!«
Berylina hörte den frustrierten Laut, den Ranita Glasmalerin ausstieß, das Grollen an der Rückseite ihrer Kehle. Sie hätte beinahe die Tür geöffnet, wäre beinahe eingetreten, um den Frauen zu sagen, dass sie den Soldaten vergessen sollten. Als Berylina an ihrem Betpult kniete, hatte sie Tarn dem Mann folgen und ihn in den grün-schwarzen Umhang des Gottes einhüllen sehen. Sie erkannte Crestman nur allzu leicht, auch wenn sie ihn am Hof ihres Vaters nur kurz gesehen hatte. Wenn sie Ranita und Mair von ihrer Vision erzählte, würden sie vielleicht erkennen, was wichtig war. Sie würden aufhören, sich zu zanken, und anfangen zu beten – zu Tarn, oder zu irgendeinem der anderen Tausend Götter.
Und das sollte Berylina auch selbst tun, beten, vorzugsweise in einem Tempel. Das war immerhin der Grund, warum sie nach Brianta gekommen war. Nicht um sich in einem geschützten Raum zu verbergen. Nicht um sich in morenianische Politik hineinziehen zu lassen. Sie hatte die Pilgerreise unternommen, um ihre Hingabe zu prüfen. Bisher hatte sie es gut gemacht…
Sie schaute zum Knieschemel vor dem Betpult, zu dem Tausendspitzigen Stern, den sie dort abgelegt hatte. Sie seufzte, nahm das Symbol ihrer Pilgerschaft auf und befestigte es an ihren Caloyagewändern. Die Spange hatte auf ihren Knien Abdrücke hinterlassen, hatte sich tief in die Quetschungen vom Vortag und vom Tag davor eingegraben.
Pilger sollten den Stern tragen. So konnte ihre Heiligkeit bekannt werden. So verkündeten sie ihre Gegenwart an den Himmlischen Toren. Berylina durfte jetzt nicht zögern, nur weil ihre Reise schwierig wurde. Was war ein wenig Schmerz angesichts des Ruhms all der Tausend Götter?
Sie stellte sich ungebeten ihr freundliches Kindermädchen vor, die Frau, die sie zuerst über die Macht der Tausend belehrt hatte. Das Kindermädchen hatte für Berylinas Unterweisung bezahlt, hatte mit ihrem Leben bezahlt, als der Vater der Prinzessin entdeckte, was er Verrat nannte.
Als Berylina die Augen schloss, spürte sie, wie der Speer ihres Vaters in ihre eigene Brust eindrang, spürte ihr eigenes Herz unter der blutigen Holzspitze reißen. Ihre grünen Gewänder raschelten in dem stillen Raum, und sie erkannte den Schmerz einer sich in ihrer eigenen Haut öffnenden Wunde. »Tarn bewahre sie und beschütze sie«, flüsterte Berylina, zwang die Worte an dem quälenden Schmerz vorbei.
Sie wirkten, wie sie es schon Dutzende Male in der Vergangenheit getan hatten. Tarn fuhr mit seinen grün-schwarzen Schwingen raschelnd über sie hinweg, zog sich an den äußersten Rand ihres Sichtfeldes zurück. Sie konnte spüren, wie sich die Wunde in ihrer Brust schloss. Sie wusste jedoch, dass sie, wenn sie in ihr frühlingsgrünes Gewand spähte, eine deutliche rote Linie sehen würde. Sie würde das Ergebnis des Speers ihres Vaters sehen, die sichtbare Mahnung an die Macht seines Zorns. Sie würde das Blut sehen, das vergossen wurde, um sie auf den Pfad der Tausend Götter zu bringen.
Bei einem Preis, wie das Kindermädchen ihn bezahlt hatte – wie konnte Berylina es da wagen, ihre Zeit in einem Raum eingeschlossen zu verschwenden? Sie zwang ihre mit Quetschungen übersäten Knie, sich zu strecken und sich zu bewegen, und öffnete die Tür.
»Ich werde ihn finden!«, sagte Ranita. »Du kannst mich nicht aufhalten!«
Berylina räusperte sich, und die beiden Frauen sahen sie überrascht an. Sie hatten eindeutig vergessen, dass sie in dem inneren Raum war. Röte breitete sich über Ranita Glasmalerins Gesicht aus, aber die Unberührbaren-Frau senkte nur den Blick und murmelte leise etwas.
Ranita erholte sich zuerst und verneigte sich vor Berylina. »Euer Hoheit.«
»Mylady.«
»Ich hoffe, wir haben Euer Gebet nicht gestört.« Sie klang verlegen. Berylina neigte den Kopf, um ihren schielenden Blick zu konzentrieren. Ranita wand sich unter dem Blick, und Berylina erkannte, dass die Glasmalerin beiseitetreten wollte, sie mit ihrem Blick festhalten wollte. Die Prinzessin war diese Reaktion gewohnt, hatte sie ihr ganzes Leben lang erlebt.
Als sie jünger war, hatte sie den Blick abgewandt. Sie hatte die Hände in ihren Gewändern verschränkt, auf ihre verschränkten Finger geblickt, als enthielten sie das Geheimnis all der Tausend Götter, und
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