Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
Signatur des Gottes war. Sie hatte ihn am Vorabend entdeckt – das heißt, sie hatte einen realen Vogel gehört. Sie hatte seinem zarten Trillern gelauscht und hatte erkannt, dass Mip große Dinge für sie bereithielt, dass der Gott wollte, dass sie in seinem Namen Magie bewirkte.
Der Klang hatte sie dazu inspiriert, ihre Staffelei aufzubauen und ihr Pergament und die farbigen Kreiden hervorzukramen. Sie hatte lange Stunden gezeichnet, hatte die Zeichnung blinzelnd zunächst mit einem und dann auch mit dem anderen Auge betrachtet.
Anfänglich waren ihre Linien kräftig. Sie sah Mip so deutlich, wie sie jeden der Götter sah, als sie ein Kind in Liantine war. Je weiter sie jedoch zeichnete, desto mehr erkannte sie, dass ihre Darstellung unvollständig war. Gewiss konnte jeder Gläubige Mips Kiefer erkennen. Jedermann konnte sein wirres Haar ausmachen.
Aber sie musste mehr vermitteln. Sie musste den Nachtigallengesang abbilden, der ihre Ohren erfüllte. Sie rang mit der roten Kreide und einem schwarzen Zeichenstift, zeichnete einige kräftige Linien ein, verwischte sie mit den Fingern.
Als sie fertig war, war Mips Gesicht verschwunden. Es war unter einer Symphonie kreuzschraffierter Linien verloren. Berylina war jedoch angetan. Sie konnte die Nachtigall hören. Mip war hier bei ihr.
Nun, mitten am Tag, schien Mip fern und vage.
Vielleicht verletzte es ihn, dass sie hier in ihren Räumen betete anstatt in seinem Heiligtum. Vielleicht war er zornig darüber, dass sie am Vorabend ein Glas hellen Wein anstatt einfaches Wasser getrunken hatte. Vielleicht war er verletzt darüber, dass Berylina so lange damit gewartet hatte, ihn aufzusuchen.
Oder vielleicht blieb er wegen des Lärms im äußeren Raum fern. Berylina versuchte, ihre Ohren vor der Unterhaltung zu verschließen, aber sie konnte den Streit zwischen Ranita Glasmalerin und Mair nicht vollständig ignorieren. Ihre Debatte war eskaliert, seit die letzten Glocken geschlagen hatten. Sie schrien einander beinahe an.
Ranita sagte: »Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich weiß nicht, warum sie uns an jenem Abend gerufen haben!« Sie? Wer? Berylina hielt den Atem an, um Mairs Antwort besser hören zu können. »Vielleicht wollten sie, dass die anderen uns sehen. Vielleicht wollten sie, dass unsere Gesichter bekannt würden.«
»Das war bisher noch nie ihre Art.« Mairs Stimme klang eigensinnig. »Denk nach. Es macht keinen Sinn.«
Berylina schlich näher an die Tür, damit sie Ranitas Antwort verstehen konnte. »Ich habe nachgedacht. Ich denke, sie wollten, dass wir Crestman sehen. Ich denke, sie wollten uns durch ihn warnen.«
»Warnen? Oder uns drohen?«
»Er hat nichts getan!« Ranis Worte klangen hastig, verzweifelt.
»Aber du kanns’ nich’ wissen, was er tun könnte, Rai. Du has’ ihn nich’ mehr gesehn, seit du ihn bei der Spinnengilde zurückgelassen hast.« Mair war in ihren Unberührbaren-Akzent verfallen. Berylina öffnete die Tür einen Spalt, um noch deutlicher zu hören.
»Du weißt, dass ich ihn nicht einfach zurückgelassen habe! Ich hatte einen Plan!«
»Der dir nich viel genützt hat.«
»Ich werde diesen Streit nicht erneut mit dir ausfechten. Ich habe getan, was ich tun musste. Ich habe um die Riberrybäume verhandelt. Hätte ich nicht die Wahlen getroffen, die ich getroffen habe, hätte Moren noch mehr gelitten, als es bereits der Fall war. Wir brauchten die Bäume. Wir brauchten die Octolaris. Wir brauchten den Seidenhandel, um die Stadt zu erlösen.«
»Ich sag nur, dass deine Wahlen Konsequenzen haben.«
»Aber Crestman! In der Gefolgschaft! Glaubst du wirklich, dass sie ihn dazu benutzen werden, Hal zu stürzen?«
»Ob sie ihn benutzen? Ich wette, dass er derjenige sein wird, der benutzt. Der Junge is’ verletzt, Rai, un er is’ wütend. Er is’ eine Gefahr für dich, un außerdem auch für Moren, un vielleicht vor allem für König Alaravilli.«
»Was soll ich also tun? Ich muss mit Crestman sprechen, Mair. Ich muss ihn daran erinnern, dass er ein Untertan Morenias ist. Ich muss…«
»Du kannst diesen Plan nicht gleich hier aufhalten, Rai. Er wird dir nich’ zuhören. Er wird dir nich’ mehr trauen. Er hat das zwei Mal zuvor versucht, un du has’ ihn beide Male enttäuscht.«
»Das habe ich nicht!«
»Ach, beruhige dich. Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Er hat in Amanthia auf dich gezählt, hat gedacht, du wärs’ seine Freundin. Un er hat auch in Liantine auf dich gezählt, hat sich ‘ne eigene
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