Die Gilden von Morenia 04 - Die Prüfung der Glasmalerin
waren wie immer bevölkert. Berylina bahnte sich ihren Weg durch eine Ansammlung von Pilgern, die um die Waren eines Händlers wetteiferten. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass der alte Mann Nachbildungen des Tausendspitzigen Sterns mit einer dünnen Goldauflage verkaufte. Jedes Symbol konnte auf ein winziges Medaillon mit dem Zeichen eines bestimmten Gottes übertragen werden, das von einem Ledergeflecht umgeben war. Der Tand wirkte protzig, und Berylina fragte sich, wer einen Gott mit einem solchen Ding entehren würde. Noch während sie sich diese Frage stellte, erkannte sie jedoch, dass viele Pilger die Gelegenheit freudig ergreifen würden, mit solch einer sichtbaren Erinnerung an eine Reise nach Brianta nach Hause zurückzukehren.
Die Menschen wollten sich an ihre Reisen erinnern. Sie wollten Schätze in ihren Händen halten, konkrete Bilder, die ihnen halfen, sich der Zeit zu erinnern, die sie unterwegs gewesen waren. Die Stadt strotzte vor Tand – geschnitzte Holzsymbole für jeden der Tausend, Tonfiguren, farbige Bänder. Was kam als Nächstes?, höhnte Berylina. War jeder Briantaner darauf aus, im Namen der Tausend Gold zu verdienen?
Berylina brauchte natürlich keine solchen physischen Erinnerungen. Sie hatte die Bilder in ihrem Kopf. Sie besaß die gewundenen Pfade, welche die Götter in ihrem Geist offenbarten, die Räume, die sie in ihren Sinnen aushöhlten. Sie seufzte und eilte an dem eifrigen Händler vorüber.
Pater Siritalanu führte sie mit einer Unmittelbarkeit und Sorgfalt zu Mips Tempel, die zeigten, dass er den Weg bereits erkundet hatte. Nur einmal liefen sie eine Seitenstraße hinab. Als sie ihn fragend ansah, errötete er und ging ein wenig schneller. »Pater?«, fragte sie in einem Tonfall, der auf ihre königliche Abstammung hinwies. Sie benutzte diesen Tonfall selten, weil er ihr ein Schuldgefühl verursachte. Dieses Mal wirkte die gebieterische Stimme jedoch zu ihrem Vorteil. Der Priester wandte sich ihr zu, wich ihrem Blick aber aus. »Pater? Was ist los? Warum führt Ihr mich hier entlang?«
»Ich wollte die Menschenmengen in jener Straße meiden«, sagte er schließlich.
»Welche Menschenmengen? Was ist dort drinnen?« Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war entschlossen, keinen Aspekt ihrer Pilgerreise auszulassen, keine Huldigung, die sie anbringen konnte, um ihre Reise zu vervollständigen.
»Ein Tempel, Euer Hoheit. Nicht mehr. Nichts, worüber Ihr Euch Gedanken machen müsstet.«
»Ich mache mir keine Gedanken, Pater. Ich bin neugierig. Welcher Gott?«
»Vielleicht habe ich mich geirrt, Euer Hoheit. Vielleicht hätten wir unseren Weg ohne Zwischenfälle fortsetzen können.«
»Pater!«
»Euer Hoheit…« Pater Siritalanu zog wahrhaftig ein Taschentuch unter seinem Gewand hervor und wischte sich damit die Stirn. Berylina wunderte sich über das Unbehagen des Priesters. Er war immerhin der Aufgabe verschworen, alle Tausend zu ehren – jeden der Götter für das anzuerkennen und zu lobpreisen, was jene Gottheit in die Welt bringen konnte.
Berylina verhärtete ihre Stimme, stärkte sie mit dem Befehlston, den sie zu Füßen ihres Vaters gelernt hatte. »Wer ist es?«
»Quan, Euer Hoheit.«
Der Gott der Huren. Berylinas Magen drehte sich, und sie unterdrückte ein unbehagliches Lachen, während sich ihre Nase mit dem scharfen Geruch des Spindelbaums füllte. Sie war dem Gott der Huren noch nicht persönlich begegnet. Er war nie zu ihr gekommen, als sie mit ihren Zeichenstiften und Pergament bereitstand. Dennoch hatte sie die Menschen von ihm flüstern gehört, und einige wenige der Götter sprachen zu ihr über ihren Kollegen. Sie wusste, dass Quan ein Taugenichts war, ein Verschwender. Sie konnte sich vorstellen, welche Form die Huldigung in diesem Tempel annahm.
Oder vielleicht konnte sie es auch nicht.
»Schon gut, Pater. Ihr hattet Recht damit, diesen Weg für mich zu wählen. Ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mich direkt zu Mip führt.« Sie betonte ihre Anerkennung durch eine Geste.
Der Ausdruck der Erleichterung auf Pater Siritalanus Gesicht wirkte fast komisch. Berylina fragte sich, was genau sie wirklich verpasste, wenn sie sich nicht ihren Weg in Quans Tempel erzwang. Der arme Pater Siritalanu. Er würde sich wahrscheinlich nie davon erholen, wenn sie dorthin zu gehen forderte. Also wandte sich Berylina von dem scharfen Geruch des Spindelbaums ab. »Der Nachmittag schreitet dahin. Gehen wir zu Mip.«
Berylina folgte
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