Die Gilden von Morenia 05 - Die Meisterschaft der Glasmalerin
über ihr Bein. Einen Herzschlag lang herrschte Stille, und dann begann eine dünne Linie Rot aus dem Schnitt zu sickern, ein zartes Flechtwerk das hinter dem Messer her floss wie Regenwasser eine Fensterscheibe hinab. Rani hielt den Atem an, aber sie hatte keine Chance, etwas zu rufen, bevor Mair das Messer anhob, die herabströmende Sonne grüßte, es dann auf ihr Bein senkte und erneut hineinschnitt.
»Mair!«
Die Unberührbaren-Frau sah sie an und wirkte nicht überrascht, als hätte sie gewusst, dass Rani sie hier in den Wäldern finden würde. »Rai.« Ihre Stimme klang nüchtern, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass sie im Sonnenlicht im Wald auf einem Felsen saß und zusah, wie Blut aus zwei langen Wunden an ihrem Bein sickerte.
»Was tust du da?« Rani schlug sich durchs Gestrüpp und wehrte ein am Boden brütendes Tier ab, um rasch zu ihrer Freundin zu gelangen.
»Ich bring es in Ordnung. Spür den Schmerz über mein verlorenes Kind aus mir rausfließen.« Mairs Stimme klang weit weg, ihr Unberührbaren-Dialekt war deutlich. »Er hätt die Wälder hier geliebt. Er hätt die Eichhörnchen gejagt und ihrem Geschnatter gelauscht. Viel besser als die Ratten in Moren, weißte.«
Ranis Hände zitterten, als sie nach Mairs Händen griff. Sie war überrascht, dass die Unberührbaren-Frau ihr die Klinge so leicht überließ. Doch dann wusste Rani nicht, was sie mit der Waffe tun sollte. Sie wischte sie an einem Flecken Moos ab und steckte sie dann in ihren Gürtel.
»Ja, du hast an deinen Sohn gedacht.« Rani bemühte sich, ihre Stimme sanft klingen zu lassen, bemühte sich, den Zorn in ihrer Brust nicht hinauszuschreien. Zorn auf Mair. Auf sich selbst. Auf Crestman, mögen all die Tausend seine verkrüppelten Glieder verfluchen. »Du hast an Laranifarso gedacht. Aber was hast du dir selbst angetan?«
Während Rani mit ruhiger Stimme sprach, sah sie sich um, suchte hektisch nach einem Tuch, um das hervorsickernde Blut abzuwischen. Mairs Quadrat schwarzer Seide lag auf dem Boden vor ihr, auf dem smaragdgrünen Moos tief dunkel wie ein mitternächtlicher Schatten. Rani wusste jedoch, dass sie es nicht benutzen konnte, dass sie sich nicht dazu bringen konnte, das Symbol für das verlorene Kind zu berühren. Die Enttäuschung ließ ihre Stimme rau werden. »Mair, du hättest dich umbringen können! Wäre deine Hand abgeglitten, hättest du eine Ader treffen können!«
»Ich hab noch keine Adern zerschnitten, Rai.« Mair lächelte traurig.
Rani holte eilig ihre Wasserflasche herbei und goss etwas Wasser auf den Saum ihres Rockes. Dank Lote war sie für die Wälder gekleidet und nicht für den Hof, dachte sie grimmig. Ihr rasches Gebet wurde von dem süßen Apfelduft des Waldgottes erwidert. Sie unterdrückte einen Fluch, während sie sich neben Mair kniete und den Schnitt mit zitternden Händen versorgte. Sie biss sich auf die Zunge, als sie sah, wie tief die Wunde in der Mitte war. »Mair, wie konntest du das tun?«
»Ich überlass mich der Macht, Rai.«
»Macht?« Rani konnte das Wort kaum aussprechen, ohne zu schreien. Sie hörte die blanke Empfindung in ihrer Stimme, rang darum, Ruhe zu bewahren. Sie musste Mair zum Lager zurückbringen. Hier waren sie nicht sicher, nicht im freien Wald. Als sie aus Morenia geflohen waren, hatten sie Sarmonia als Atempause angesehen, aber jetzt, wo Crestman durch die Wälder streifte… Rani blickte in die Schatten und kaute auf ihrer Lippe, als sie erkannte, dass die Sonne bereits sank. Die Nacht kam im Wald rasch. »Sitz still, Mair«, sagte sie und ließ die Angst ihre Stimme härten. »Lass mich dies auswaschen. Ich kann nicht glauben, dass du dir das selbst angetan hast.«
»Das hab ich, Rai. Niemand sonst. Du nich’, dein König nich’, auch nich der edle Farsobalinti.« Mairs Blick wirkte gehetzt, während sie ihre tapfere Erklärung abgab.
»Ich hätte niemals gedacht…« Rani brach ab, während der Schnitt weiterhin blutete. Sie erwog, doch nach dem Seidenquadrat zu greifen, auch wenn sie wusste, welchen Kampf eine solche Handlungsweise heraufbeschwören würde. Nein, Mair sollte ihr Bein nicht bewegen, nicht so. Rani hob stattdessen ihren Rocksaum an ihre Zähne. Sie durchbiss den Faden, der das Kleidungsstück ordentlich umgeschlagen hielt, und dann riss sie ein langes Stück ab.
»Dann solltest du mehr Kraft in deine Träume legen, Rai.« Mair sprach, als hätte sie den Stoff nicht reißen hören, als sähe sie nicht, wie Rani Wasser über
Weitere Kostenlose Bücher