Die Gilden von Morenia 05 - Die Meisterschaft der Glasmalerin
den Behelfsverband goss. »Du solltest an die Kraft des Schmerzes denken.«
»Die Kraft des Schmerzes«, schnaubte Rani, während sie die Wunde sauber wischte. Sie zwang sich, Mairs unwillkürliches Zusammenzucken zu ignorieren.
»Ja, Rai. Ich hab erwählt, wie tief der Schnitt is’. Ich hab entschieden, wie viel ich zahlen muss. Wir Unberührbaren beziehen unsere Kraft von dort, wo wir sie finden. Halte dich an deine Kaste, du weißt.«
Halte dich an deine Kaste. Rani hatte diese Lektion vor langer Zeit gelernt, als sie in Morenia ums Überleben kämpfte, um ihr Leben kämpfte, nachdem das Gildehaus zerstört worden war. Damals war die Gefolgschaft ihr Lehrer gewesen, ihr Wohltäter. Damals, als sie geglaubt hatte, sie kämpften für das Gute, für Gerechtigkeit und Recht.
»Du bist kein Unberührbaren-Balg mehr, das in den Straßen der Stadt lebt, Mair. Du brauchst dich nicht mit verdammten Messern zu beweisen.«
»Ich muss mich vielleicht vor dir nich’ beweisen.« Die Unberührbaren-Frau schaute verträumt an Rani vorbei und betrachtete dann lächelnd das Quadrat aus schwarzer Seide, als führe sie eine geheime Unterhaltung mit dem Tuch. »Aber vor meinem Sohn, Rai… Ich hab ihn einmal im Stich gelassen, aber er lernt langsam, dass ich die restliche Zeit gut für ihn sorgen will.«
»Gut für ihn sorgen? Was meinst du damit?« Rani war durch Mairs mangelnde Reaktion, durch die Tatsache, dass die blutende Frau nicht erneut zusammenzuckte, als Rani ihre Wunde reinigte, noch verwirrter. Rani wusste, dass sie selbst stark reagiert hätte, dass die Berührung des Tuches auf rohem Fleisch nicht sanft sein konnte. Sie wiederholte: »Was meinst du damit?«
»Ich hab mir geschworen, mich an alles zu erinnern, was ich falsch gemacht hab. Ich benutz das Messer, um die Gedanken in meinen Kopf zu zwingen. Ich kann nich’ so gescheit sein, wie ich früher war, als ich ‘n Mädchen war, und in den Straßen der Stadt umherlief. Ich kann mich nich’ an alles erinnern, was ich früher wusste.«
»Du brauchst keine solche Erinnerung.« Rani schnalzte mit der Zunge, während sie das Tuch auf die Wunde presste. Sie hielt es fest, während sie bis zehn zählte, und nahm es dann langsam wieder ab. »Du wirst niemals vergessen. Niemand von uns wird jemals vergessen.«
»Lar hat Angst, Rai. Er denkt, wir verlassen ihn. Ich bin seine Mutter. Ich bin diejenige, die ihn wissen lassen muss, dass wir hier sind und immer bei ihm bleiben.«
Tränen brannten in Ranis Augen, und sie schluckte heftig. »Nome wacht über ihn, Mair.« Den Gott der Kinder allein schon zu erwähnen, brachte den Klang von Flöten heran. Rani schwindelte fast bei der Klangfülle der Musik.
»Was?«
»Nichts. Nichts Wichtiges.« Die Flöten wurden lauter, als wollte sich Nome nicht verleugnen lassen, aber Rani wusste, dass sie die Zeit nicht erübrigen konnte, ihn angemessen zu würdigen. Sie hätte niemals den Mut, bewusst eine Verbindung mit den Göttern einzugehen. Sie hätte niemals die Kraft.
Mairs Augen verengten sich zu Schlitzen, sie wurde zur weisen Freundin, die Rani auf ihren vielen Reisen begleitet hatte. »Ich glaube dir nicht.«
»Ich würde nicht lügen.« Rani drückte erneut auf die tiefere der beiden Wunden und atmete erleichtert aus, als sie entdeckte, dass die Blutung aufgehört hatte. »Aber wir dürfen keine Zeit verschwenden.«
»Ich hab Zeit«, sagte Mair mit tonloser Stimme. »Ich hab alle Zeit der Welt.«
»Mair! Crestman ist im Wald!«, sagte Rani, ohne nachzudenken, ohne zu ermessen, was die Worte für Mair bedeuten würden, für die Mutter, die ihr Kind an den wahnsinnigen Soldaten verloren hatte. »Er ist hier und die Gefolgschaft ist hier, und es ist nicht sicher für uns, allein zu sein!«
Rani hörte ihren Ruf von den Bäumen um sie herum widerhallen, und sie hielt inne. Was sagte sie da? Ihre Freundin war verrückt genug, sich wegen dem, was Crestman getan hatte, zu schneiden, und nun sagte Rani, sie seien in Gefahr. Was würde Mair tun? Wie würde sie reagieren?
Die Unberührbaren-Frau lachte. Sie warf ihren struppigen Kopf zurück und lachte schallend. Auch dieser Klang hallte von den Bäumen wider. Mair beugte sich vor und streckte eine Hand zu Rani aus, als versuchte sie, ihre Lachsalven zu zügeln, aber sie konnte nicht aufhören.
»Mair!« Rani streckte auch eine Hand nach ihrer Freundin aus, versuchte, der bekümmerten Frau die Arme um die Schultern zu legen. Hoffnungslosigkeit klang durch das Lachen
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