Die Gilden von Morenia 05 - Die Meisterschaft der Glasmalerin
ihr. »Wenn du bereit bist, lass die Bilder den Fluss hinabtreiben. Lass die Ratsuchende gehen.« Kella schloss ihr geistiges Auge, ließ Jalina sich über die Wasseroberfläche ausbreiten. »Wenn du bereit bist, kannst du dich auf dem Stein aufrichten. Du kannst aufstehen und dich wieder dem Ufer zuwenden. Du kannst zum Ufer zurückgehen, wo du aus der Hypnose erwachen wirst und dich ausgeruht fühlst. Du wirst dich an alles erinnern, was du über die Ratsuchende erfahren hast. Du kannst über die Steine zurückkommen, wann immer du willst. Zähle sie beim Gehen. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins.«
Kella öffnete ruckartig die Augen. Hypnose. Sie hatte es getan. Sie war in ihre Erinnerung hinabgetaucht… Sie erhob sich, erstaunt über die Kraft, die ihre Adern durchströmte. Ihr erster Schritt war jedoch schwankend.
»Vorsicht!«, sagte Tovin, und in seiner Stimme schwang ein Lachen mit. »Nimm dir einen Moment Zeit, dich zu zentrieren. Erzähle mir, was du gesehen hast.«
»Ich kann nicht!« Sie hörte die Kraft ihrer Stimme, erinnerte sich all ihrer Gründe zur Eile. »Ich meine, ich werde es tun. Aber jetzt muss ich gehen. Ich werde morgen Abend mit dir reden.«
Das würde sie jedoch nicht tun. Sie konnte das Wissen in ihrer Stimme hören, sie konnte ihre Akzeptanz hören. Wenn sie durch irgendein Wunder morgen Abend noch lebte, wäre sie weit von der Großen Lichtung entfernt. Weit von den Schwestern entfernt, und von der Gefolgschaft und dem Wald, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte.
»Kella…«
»Ich muss gehen. Ich werde jedoch zum Lager zurückkommen. Ich verspreche es. Sobald ich kann.«
Er ließ sie natürlich gehen. Er konnte nichts anderes tun. Er konnte sie nicht aufhalten, wenn er sie nicht auf diesem Stuhl festbinden wollte, und sie wusste, dass er das nicht tun würde.
Er war ein junger Mann. Er würde sie nur allzu bald vergessen. Sie erstickte das jähe Verlustgefühl, das ihre Brust durchfuhr. Sie hatte niemals seine Träume eingesammelt. Sie hatte niemals die seltsamen Dinge erfahren, die durch seinen Geist zogen, während er schlief.
Und nun würde sie sie auch niemals erfahren.
Außerhalb des Zeltes war es dämmerig. Schatten verschmolzen im trüben Abendlicht, und Kella hätte den Knappen übersehen, wenn er nicht gefragt hätte: »Wollt Ihr dann mit zum Herdfeuer kommen?«
»Nein. Nur zum Weg zurück.« Sie zog ihren Umhang enger um die Schultern, richtete die Kapuze, so dass sie ihr Gesicht verbarg. Es wäre nicht gut, jemandem zu begegnen, den sie im Lager kannte. Nicht jetzt. Nicht wenn sie zum ersten Mal seit Wochen einen festen Weg unter den Füßen spürte.
Und dieses eine Mal hielt ihr Glück an. Sie verließ die Große Lichtung und schritt den breiten Waldweg entlang. Sie fand den schmaleren Pfad, den sie suchte. Sie kam am Greenbank an und folgte dem Fluss, bis sich völlige Dunkelheit über den Wald gesenkt hatte.
Auch ihr Rocksaum wurde mit rotem Ton befleckt. Zweimal glitt sie aus, und nur die Kraft in ihren Händen, die Kraft und die Schnelligkeit, mit der sie nach festen Gräsern und dürren Bäumen griff, verhinderte, dass sie in den Fluss stürzte.
Sie erreichte die Gabelung des Flusses und wählte die linke Abzweigung. Sie konnte den scharfen Otria neben sich riechen. Das Flussbett wandte sich nach Norden, und sie folgte ihm mühelos. Der Mond war inzwischen aufgestiegen, hoch genug, dass sie ihren Weg ohne Schwierigkeiten ausmachen konnte. Sie konnte die Fichten um sie herum riechen.
Da! Dieser Baum war noch nicht umgestürzt, als sie das letzte Mal am Greenbank entlanggegangen war. Etwas daran schien falsch, fehl am Platz. Sie ging rasch vorüber und weiter an dem Schutthaufen einer verlassenen Jagdhütte vorbei.
Sie sollte nun fast da sein… Sie sollte etwas sehen können, etwas, was darauf hindeutete, dass eine nordländische Frau am Fluss lagerte… Sie sollte…
»Halt!« Der Befehl klang in der Nacht ruhig, aber so scharf, dass kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass er ernst gemeint war. Kella blinzelte und erkannte glänzenden Stahl in einer Soldatenhand. »Wer stört den Schlaf des Waldes?«
»Ich bin es«, sagte Kella und schlug ihre Kapuze zurück. »Kella Kräuterhexe. Ich bin gekommen, um Jalina und Würmchen zu sehen.« Sie schluckte und fügte ihre wahren Namen hinzu. »Mareka und Marekanoran.«
Die beiden Wächter berieten sich im Flüsterton, und einer schlüpfte durch das Unterholz, das bis zum Fluss hinab wuchs. So sollte es
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