Die Gilden von Morenia 05 - Die Meisterschaft der Glasmalerin
du bereit bist, nimm auch den nächsten. Du kannst sie zählen. Ich muss sie nicht für dich zählen.«
»Drei«, sagte sie, und der dritte Stein war da. »Vier.« Überraschung wallte in ihr auf, aber sie bot sie dem Fluss dar, ließ sie flussabwärts treiben, bevor sie sie von dem Trittstein stürzen konnte. »Fünf.«
Sie dachte daran, die übrigen Steine zu zählen, dachte daran, die Zahlen laut auszusprechen, aber es war nicht nötig. Tovin würde sie verstehen. Er würde hinter ihr bleiben. Er würde sie weiterhin führen. Sie spürte seine Stimme mehr, als dass sie sie hörte, fühlte die Worte in ihrem Geist wispern. »Sehr gut, Kella. Der Nächste ist ein großer Stein. Du kannst jetzt darauftreten. Tu den Schritt. Sehr gut. Du kannst dich auf diesen Stein setzen. Du kannst das Wasser um dich herumfließen lassen. Du kannst dich auf dem Stein ausstrecken, flach auf seiner Oberfläche liegen. Lass das Wasser vorüberfließen. Spüre es in deinem Haar. Spüre es an deinem Körper. Lass dich von dem Wasser davontreiben. Weiter. Weiter.«
Sie erkannte mit einem Teil ihres Geistes, dass sie an seiner Brust lehnte, aufrecht auf einem Stuhl inmitten des Lagers der Nordländer saß. Sie könnte die Augen öffnen, wann immer sie wollte, zum Lager und seinen Gefahren und Bedrohungen zurückkehren.
Mit einem größeren Teil ihres Geistes trieb sie jedoch im Fluss ihrer Erinnerung. Sie war dort sicher. Sie war geschützt. Tovin ersann weitere Worte. »Du kannst das Wasser neben dir fließen sehen. Gestalten bilden sich im Wasser. Du kannst sie sehen, ohne deine Augen zu öffnen. Du kannst die Gestalten beobachten, sie beobachten wie einen Traum, der sich vor deinen Augen entwickelt. Eine der Gestalten ist die Ratsuchende. Siehst du sie?«
Jalina materialisierte sich aus dem Wasser, erschien vor Kella, als wäre sie aus einer Nebelbank getreten. Tovin wartete auf eine Antwort, wartete geduldig, und sie nahm sich für ihre Erwiderung Zeit. »Ja.«
»Du kannst die Ratsuchende sprechen hören. Sie sagt gerade die Worte, die sie an dem Abend gesagt hat, als du ihr zum ersten Mal begegnet bist. Du hast sie in deiner Hütte begrüßt, und sie reagiert auf deine Begrüßung. Hörst du sie?«
Jalina verbeugte sich auf seltsame Art, für eine Bauersfrau viel zu formell. Die seltsame Begrüßung wurde durch die beschützende Hand, die sie über ihren kaum angeschwollenen Bauch legte, noch bizarrer. »Ich grüße Euch, Madam«, sagte Jalina. »Ich habe an der Straße gefragt, und man sagte mir, Ihr besäßet das weise Wissen der Kräuter.«
Tovin wartete erneut. Kella entzog sich der Erinnerung gerade so weit, dass sie antworten konnte: »Ja.«
»Dann blicke durch das Wasser«, sagte Tovin. »Betrachte die Ratsuchende und hör ihr zu. Erinnere dich, was sie dir erzählte – mit ihren Worten und ihren Gesten und ihrer ganzen Erscheinung. Erinnere dich an alles, woran du dich erinnern musst, damit du deine Angelegenheit regeln kannst.«
Kella hörte die Worte wie eine Suggestion, erkannte, dass sie die Macht besaß zu tun, was immer sie wollte. Wenn sie wollte, könnte sie die Hypnose hier und jetzt beenden, die Augen öffnen, sich erheben, den Gaukler verlassen, die Große Lichtung verlassen. Aber sie beschloss zu bleiben. Sie beschloss, in dem Fluss zu verweilen, ihre Vision von Jalina zu betrachten.
Die Frau war eindeutig zu Fuß zu Kellas Hütte gekommen. Sie war gerötet, und Schweiß befeuchtete ihre Stirn, aber sie war nicht erschöpft. Sie konnte also nicht von sehr weit her gekommen sein. Nicht in ihrem empfindlichen Zustand.
Kella betrachtete Jalina genauer, suchte nach weiteren Hinweisen auf ihr Versteck. Frische Erde bedeckte den Saum ihres Gewandes, ein tiefroter Ton, der im Mondlicht fast schwarz schimmerte. Kella erkannte die Erde. Schichten davon waren den ganzen Greenbank Creek entlang zu finden.
Da. Am Ärmel von Jalinas Gewand. Hellgelber Blütenstaub hob sich im Mondlicht ab, schimmerte wie das Gold, das die Frau ihr zu bezahlen versprochen hatte. Blütenstaub der Otriapflanze. Kella kannte sie gut. Sie wuchs an der linken Abzweigung des Greenbank, unmittelbar jenseits einer großen Ansammlung von Farnen.
Und dort. Saft glänzte in klebrigen Perlen in Jalinas Haar. Sie war an einem Baum entlanggestreift. Kella atmete tief ein. Eine Fichte. Fichten wuchsen oberhalb der Biegung der linken Abzweigung, des kleinen Nebenflusses des Greenbank, der wieder nach Norden floss.
Und dann sprach Tovin erneut zu
Weitere Kostenlose Bücher