Die Glasblaeserin von Murano
Luft. Corradino hatte ihr Flehen erhört. Er war vollkommen.
Nora trank den starken schwarzen Espresso, den Adelino ihr gebracht hatte, bevor er in dem Chaos auf seinem Schreibtisch nach einem Stift suchte.
«Ich nehme Sie als Lehrling auf, für einen Monat zur Probe. Der Lohn ist niedrig, und Sie werden während dieser Zeit nur den maestri zur Hand gehen. Keine eigenen Arbeiten. Haben Sie verstanden?»
Nora nickte benommen. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Er reichte ihr ein Formular, das er mit Tintengekritzel bedeckt hatte.
«Nehmen Sie das mit zur Questura - dem Polizeipräsidium - in Castello. Es liegt an der fondamenta San Lorenzo. Sie brauchen eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis. Das wird vermutlich eine Weile dauern, aber es wird Ihnen helfen, dass Ihr Vater aus dieser Stadt stammt und dass Sie hier geboren sind.» Mittlerweile hatte Nora Adelino ihre Geschichte erzählt. «Und in der Zwischenzeit lassen Sie sich dieses Formular abstempeln, dann können Sie hier arbeiten, bis alle Unterlagen beisammen sind.» Er zuckte ergeben mit den Schultern. «Wir sind in Venezia, hier dauert alles seine Zeit.»
Nora stellte vorsichtig ihre Tasse ab. Sie fragte sich, ob sie träumte. Womöglich wachte sie plötzlich auf und fand sich vor dem Spiegel wieder, ihr eigenes Gesicht vor Augen. Doch Adelinos Worte rissen sie aus ihren Gedanken.
«Seien Sie sich über eines im Klaren: Sie haben ein wenig Talent, und vielleicht wird es sich noch entfalten. Aber ich stelle Sie vor allem wegen Ihres Namens ein und weil ich großen Respekt vor Corradinos Kunst habe. Versuchen Sie, seinem Ruf gerecht zu werden.» Er erhob sich und deutete damit das Ende des Gesprächs an. «Seien Sie am Montag um Punkt sechs Uhr hier. Keine Verspätung, sonst sind Sie gefeuert statt geheuert.» Er gestattete sich ein Lächeln über seinen kleinen Scherz, der seinen Worten die Schärfe nahm. «Und jetzt muss ich wieder ins Geschäft.»
Nora schwankte hinaus ins Tageslicht. Ihr war schwindlig. Sie schaute auf das lang gestreckte, niedrige rote Gebäude, in dem sie von nun an arbeiten würde, auf die roten Häuser am Kanal und auf das verblasste Straßenschild. Sie traute ihren Augen kaum.
Die Fondamenta Manin. Die Manin-Straße. Die Hauptstraße von Murano ist nach Corradino benannt. Und nach mir.
In der Ferne erhoben sich über der Lagune die Kuppeln der Markuskirche, ein Anblick von herzzerreißender Schönheit. Nora bemerkte erst jetzt, dass man von hier aus den idealen Blick auf Venedig hatte. Sie machte einen Luftsprung und stieß einen Freudenschrei aus, bevor sie sich zu den verdutzten Deutschen auf dem wartenden Boot gesellte.
Nora wusste nicht, dass jemand sie beobachtete. Von seinem Bürofenster aus schaute Adelino ihr nach. Seine nachdenklich zusammengekniffenen Augen und den unergründlichen Gesichtsausdruck hätte seine verstorbene Frau unzweifelhaft als Gefahrensignal gedeutet. Adelinos Blick blieb an demselben Straßenschild hängen, das Nora gerade bemerkt hatte. Die Fondamenta Manin. Der ganze Ort hieß so wie sie. Ihr Name stand seit Jahrhunderten für die venezianische Glasbläserkunst. Außerdem hatte sie Talent, und es würde sich schnell entwickeln. Schließlich hatte sie den großen Corradino auf ihrer Seite.
Er drehte sich vom Fenster weg und wandte sich wieder seinem Büro und der Wirklichkeit zu. Sie befanden sich nicht mehr im siebzehnten Jahrhundert, und weder seine Glashütte noch die Stadt Venedig besaßen noch das Monopol der Glasherstellung. Ganz Murano und San Marco waren voller Glashütten und Souvenirläden, die teure Kinkerlitzchen aus Glas verkauften - Nippes für die Touristen. Dabei buhlten alle um die Gunst der reicheren Besucher, Amerikaner oder Japaner, die zuweilen auch teurere Stücke erstanden. Adelino war gezwungen, mit den besseren Hotels Knebelverträge abzuschließen, um zu gewährleisten, dass sie ihm ihre Gäste schickten. Doch oft zahlte sich das nicht aus: Die Touristen machten nur ein paar Fotos und stiegen wieder in ihr Boot, ohne etwas in seinem Geschäft gekauft zu haben. Wenn es schlecht lief, zahlte er mehr an die Hotels, als er einnahm.
Schwerfällig ließ er sich an seinem Schreibtisch nieder. Seine Fabrik war in Schwierigkeiten. Warum um alles in der Welt hatte er ausgerechnet ein unerfahrenes Mädchen eingestellt, dem er auch noch Lohn zahlen musste? Warum waren seine Handflächen feucht vor Schweiß? Warum schlug sein Herz schneller? In Adelino
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