Die Glasblaeserin von Murano
und wenn doch mal einer entkam, sperrte man seine Familie ein oder brachte sie um, um den Flüchtling zur Rückkehr zu zwingen.» Luca machte eine Kunstpause, um die schauerliche Geschichte auf seine Zuhörer wirken zu lassen, und trank einen Schluck Bier. «Nachdem der Stadtstaat seine Unabhängigkeit verloren hatte, war es mit der Monopolstellung vorbei, und es entstanden immer mehr Fabriken, bis es schließlich ungefähr 300 in der ganzen Stadt gab. Nachdem das Glasmonopol gebrochen war, kamen viele Glasbläser aus aller Welt hierher, um von den venezianischen Glasbläsern zu lernen und ihr Wissen mit in ihre Heimat zu nehmen. Als es kein Geheimnis mehr war, wie man Glas herstellt, ging es mit Murano bergab. 1805 wurde die Glasmachergilde aufgelöst, die Werkstätten schlössen und die Künstler verstreuten sich über ganz Europa.»
«Heutzutage ist es ein ganz anderes Geschäft als damals», warf Roberto ein. «Zu Giacomos Zeit stellte man hier alle möglichen Glaswaren her, von der einfachsten Flasche» - er schwenkte die Peroni-Flasche - «bis zu den kostbarsten Spiegeln. Heute werden Glaswaren für den täglichen Gebrauch in riesigen Fabriken in Deutschland, Frankreich oder der Türkei hergestellt. Wir können uns nur halten, weil wir uns auf Qualitätsglas spezialisiert haben - die , wenn du so willst. Unsere einzigen Kunden sind die Touristen, und unsere Glashütte bekommt auch nur ein kleines Stück vom Kuchen ab. Der Wettbewerb ist hart. Du kannst wirklich froh sein, dass man dich eingestellt hat.» Er schaute Nora nachdenklich an.
Während Roberto noch einen Schluck Bier nahm, senkte Nora die Augen. Sie fühlte sich unbehaglich, fast ein wenig gekränkt, doch Roberto sprach schon weiter.
«Man könnte sagen, dass Giacomo damals Venedigs bester Glasbläser war, denn er war Maestro in der einzigen Werkstatt.» Ihr fiel auf, dass Roberto von lange vergangenen Ereignissen sprach, als seien sie gerade erst geschehen. «Du redest von ihm, als würdest du ihn kennen», sagte Nora erstaunt, die in seinen Worten etwas von ihren eigenen Empfindungen wiederfand.
«Das tun alle Venezianer», antwortete Roberto lächelnd. «Hier ist die Vergangenheit immer gegenwärtig. Alles ist praktisch erst gestern passiert.»
Nora beschloss spontan, den beiden von ihrer eigenen Familie zu erzählen. «Ich finde das alles sehr spannend, weil zufällig auch einer meiner Vorfahren etwa um dieselbe Zeit hier arbeitete. Er muss Giacomo gekannt haben. Sein Name war Corrado Manin, auch bekannt als Corradino. Hast du schon einmal von ihm gehört?»
Plötzlich wurde Robertos Gesicht verschlossen. Er tauschte einen raschen Blick mit Luca und sagte brüsk: «Nein, tut mir leid. Noch ein Peroni?» Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging zur Theke hinüber.
Nora saß da wie vor den Kopf geschlagen. Was war nur in Roberto gefahren? Sie wandte sich an Luca, der sie mit einem herzlichen Lächeln bedachte. «Kümmere dich nicht um Roberto. Er ist ein bisschen komisch, was seine Vorfahren angeht. Er ist der Ansicht, dass die Fondaria in Wahrheit ihm gehören müsste. Dauernd will er sich bei Adelino in den Vordergrund spielen und versucht ihn zu überreden, das Glas unter dem Namen del Piero zu vermarkten. Wahrscheinlich denkt er, du wolltest ihn ausbooten.»
«Aber ... Ich wollte ... Ich habe ...»
«Ist schon in Ordnung, wirklich. Vergiss es. Da ist er ja wieder.»
Als Roberto mit den drei Peroni zurückkam, bemühte sich Nora, besonders nett zu Roberto zu sein. Sie stellte ihm Fragen über die Glasherstellung und versuchte so, ihren Fehler wieder auszubügeln, obgleich ihr immer noch nicht klar war, was sie eigentlich falsch gemacht hatte. Roberto schien ein wenig besänftigt zu sein, doch etwas Unangenehmes geschah - im Laufe des Abends wurde er immer betrunkener. Nora, die sich allmählich Sorgen wegen des letzten Bootes machte, das von Murano aus in die Stadt fuhr, fiel plötzlich auf, dass Luca vor geraumer Zeit zur Toilette gegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Sie blickte sich in der Bar um, doch er war nirgends zu sehen - wie auch die anderen Vetraie, die sich offensichtlich auf dem Heimweg befanden.
Du lieber Himmel.
Nora stieß einen tiefen Seufzer aus. Auf einmal fühlte sie sich um zehn Jahre zurückversetzt, an das St. Martin's College, wo es oft ihre undankbare Aufgabe gewesen war, Freunde nach Hause zu begleiten, die sternhagelvoll und entsprechend rührselig waren. Einen solchen
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