Die Glasblaeserin von Murano
Tag in der Fondaria erfreulich verlaufen. Die meisten der Männer behandelten sie mit einer höflichen Zurückhaltung, um die sie vermutlich Adelino gebeten hatte. Zwei der jüngeren Glasbläser, Roberto und Luca, gut aussehende Burschen, die immer im Gespann zu arbeiten schienen, waren sehr hilfsbereit und verfolgten Noras Fortschritte mit ihren dunklen, wachsamen Augen.
Als sie zusammen mit den anderen Feierabend machte, beglückwünschte sie sich, dass ihr an ihrem ersten Tag keine groben Schnitzer unterlaufen waren. Sie freute sich, als ihre beiden jungen Kollegen sie einluden, mit ihnen und den anderen noch etwas trinken zu gehen. Adelino ging nicht mit, aber Nora fühlte sich auch ohne ihn in der Gruppe sicher. Ihr Ziel war eine einladende Bar mit gemütlicher Beleuchtung. Die Vetraie waren dort offensichtlich Stammgäste, denn ihre übliche Bestellung - zehn Peroni-Biere - wartete schon auf der Theke auf sie. Nora sank auf den Stuhl, den Roberto zuvorkommend herbeigeschafft hatte, und ließ den Kopf auf der schmerzenden Halswirbelsäule kreisen. Sie nahm es mit einem Lächeln auf, dass einige der Männer ein paar anzügliche Witze machten und ihr scherzhaft anboten, sie zu massieren.
Ich muss mich an diese Männerwitze gewöhnen und darf mich davon nicht abschrecken lassen. Dies ist immer eine Männerwelt gewesen. Ich muss lernen, mich anzupassen, und darf nicht die Prinzessin auf der Erbse spielen.
Sie drückte die kalte Flasche Peroni an ihre Stirn, die von der Hitze des Ofens noch immer stark gerötet war, und spürte, wie ihr das angenehm kühle Kondenswasser auf die Wange tropfte. Sie nahm einen Zug, und während ihre Lippen den Rand der Flasche berührten und ihre Zähne leicht gegen das Glas klickten, musste sie an die Beständigkeit der Glasbläserkunst denken. Hier hielt sie ein ähnliches Produkt in der Hand, wie es schon Corradino und seine Kollegen gefertigt hatten. Der Unterschied war jedoch, dass dies hier ein Massenprodukt aus wiederaufbereitetem Glas war, nützlich, aber seelenlos.
Über der Theke war ein Fernseher angebracht, auf dem MTV lief. Es war unmöglich, sich dabei auf die Unterhaltung zu konzentrieren, geschweige denn, Betrachtungen über das Glashandwerk anzustellen. Glücklicherweise bot ihr Roberto einen Platz an einem kleinen Ecktisch an, den Luca für sie freigehalten hatte. Nora setzte sich lächelnd zu ihnen und beantwortete die Fragen der beiden über London, den FC Chelsea und Robbie Williams - in genau dieser Reihenfolge. Im weiteren Gespräch fand sie heraus, dass beide Männer aus Glasbläserfamilien stammten.
«Robertos Familie hat sogar die längste Glasbläsertradition von uns allen, obwohl er selbst der Jüngste ist», sagte Luca.
«Aber der Begabteste», warf Roberto ein und grinste, um seine Prahlerei ein wenig abzuschwächen.
«Das stimmt leider», erwiderte Luca seufzend. «Der alte Adelino weiß sehr genau, was er an dir hat. Es wäre für sein Geschäft eine Katastrophe, wenn du zu einer anderen Glashütte wechseln würdest.»
«Er sagt, ich hätte den geerbt», erklärte Roberto Nora in aller Bescheidenheit.
«Ja», konterte Luca und hielt sich die Nase zu. «Ich kann mir schon denken, was er meint. Du stinkst aus dem Hals.»
Roberto versetzte Luca einen Rippenstoß, und beide brüllten vor Lachen. Nora rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und kam sich plötzlich sehr alt vor. Diese Jungen waren ja ganz nett, aber doch noch ein bisschen unreif. Um das Gespräch wieder auf ein interessanteres Thema zu lenken, fragte sie Roberto: «Ist denn deine Familie schon immer in dem Gewerbe tätig gewesen?»
«Seit Ewigkeiten. Genau gesagt, schon seit dem siebzehnten Jahrhundert. Mein Vorfahre, Giacomo del Piero, war damals Maestro in unserer jetzigen Fondaria.»
Im siebzehnten Jahrhundert! Zu Corradinos Zeiten! Ob sich die beiden Männer wohl kannten?
«Ich nehme an», sagte Nora und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, «dass es hier damals viele fondari gab, oder?»
«Nein», antwortete Luca, der einen etwas aufgeweckteren Eindruck als sein Kollege machte. «Zu der Zeit gab es nur eine einzige Glashütte auf Murano. Venedig war damals noch eine eigenständige Republik und konnte daher das Glasmonopol leichter überwachen. Nachdem die Glashütte im Jahre 1291 hierher verlegt worden war, lebten und starben alle Glasbläser von Venedig hier auf Murano. Ihnen drohte sogar die Todesstrafe, wenn sie die Insel verließen,
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