Die Glasblaeserin von Murano
allen Schattierungen von Orange bis Rot, die aussahen, als wären sie aus vulkanischer Lava geformt. Fein gearbeitete Stücke mit einer Oberfläche wie gesprungenes Eis drängten sich Seite an Seite mit Figuren, die dem kommerziellen Geschmack des zwanzigsten Jahrhunderts entsprachen: dicke Vögel im Käfig, in ewigem Gesang erstarrt. Die Wände waren bedeckt mit Spiegeln in allen Größen und Formen, die wie eine Sammlung von Porträts wirkten. Doch im Gegensatz zu diesen erschienen in den Rahmen der Spiegel immer wieder neue Gesichter. Es war fast, als buhlten sie um die Gunst der Käufer. Ich gebe deinem Gesicht den richtigen Rahmen, versprach ein jeder. Du gehörst mir. Ich mache dich schön - bis du vorübergegangen bist und das nächste Gesicht in meine Tiefen schaut. In einen solchen Spiegel blickte Nora soeben.
Heute betrachte ich nicht mich, sondern das Glas. Das Glas, allein daraufkommt es an.
Mit diesem Mantra wollte Nora sich selbst Mut zusprechen. Wie zur Bekräftigung sah sie sich den Spiegel genauer an. Um die Glasfläche zog sich ein Kranz aus gläsernen Blüten, so zart und echt aussehend, dass Nora das Gefühl hatte, eine davon abpflücken und an ihr riechen zu können. Das war Kunst, die ganz in Noras Sinne war. Ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie gar nicht unbedingt Neues schaffen wollte. In ihren Augen war es viel wichtiger, sich auf die Vergangenheit zu besinnen, die alten Künste wieder zu beleben und zu perfektionieren.
Ich bin nicht mehr ganz bei Trost. Ich werde mich jetzt noch ein wenig umschauen und dann nach Hause fahren. Nach Hause, das heißt nach London. Ich muss wirklich verrückt gewesen sein, zu glauben, dass ich Zugang zu einem der traditionsreichsten und anspruchsvollsten Berufe in Venedig finden könnte, nur weil ich von einem Glasbläser abstamme und eine bescheidene Begabung vorweisen kann.
Nora umklammerte die mitgebrachte DIN-A4-Mappe. Sie enthielt Hochglanzfotos der Glasarbeiten, die sie in der Cork Street ausgestellt hatte. Sie war so stolz daraufgewesen - bis sie diesen Raum gesehen hatte.
Einfach verrückt. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich gehe jetzt.
«E molto bello, questo vetrio. Vorrei guardare la nostra lista di prezzi?»
Die Stimme erklang nahe an ihrem Ohr und riss Nora aus ihren trüben Gedanken. Sie gehörte zu einem der gepflegten, gut gekleideten Verkäufer, die den Kunden bei ihren Einkäufen behilflich waren. Der freundliche ältere Mann schien der Ladenbesitzer zu sein, Nora hatte dies an seinem Auftreten den anderen Verkäufern gegenüber bemerkt. Er sah, dass er sie erschreckt hatte, und schaute ein wenig schuldbewusst drein.
«Mi scusi, Signorina. Lei e Italiana?»
Nora lächelte entschuldigend, weil sie so zusammengefahren war.
«Nein, ich bin keine Italienerin.» Hier war nicht der passende Ort, um ihre Abstammung zu erläutern. «Sono Inglese.»
«Es tut mir leid», sagte der Herr in fließendem Englisch, «aber Sie sehen wirklich wie eine Italienerin aus, abgesehen von den blonden Haaren natürlich. Wie von Botticelli», fügte er charmant hinzu. «Möchten Sie vielleicht unseren Katalog oder die Preisliste sehen?»
Nora nahm ihr letztes bisschen Mut zusammen. Dass er sie für eine Italienerin gehalten hatte, nahm sie als gutes Zeichen. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance. «Eigentlich wollte ich mich um eine Anstellung bewerben.»
Sofort änderte sich das Verhalten des Mannes. In seinen Augen war Nora von der wohlhabenden Kundin zur lästigen Rucksacktouristin abgestiegen. Jeden Tag fragte jemand nach Arbeit. Langsam wurde es lästig. Warum konnten sie nicht alle in die Toskana gehen und Trauben pflücken? Er zwang sich zu einer höflichen Antwort.
«Ich bedauere, Signorina, aber wir beschäftigen keine Ausländer im Geschäft.»
Als er sich zum Gehen wandte, sagte sie mit dem Mut der Verzweiflung: «Ich meinte nicht den Laden. Ich möchte in der Fondaria arbeiten. Als vetraia.»
Der Mann lachte. «Das ist ganz unmöglich. Diese Arbeit erfordert eine jahrelange Ausbildung. Es ist ein Beruf, der besondere Fähigkeiten verlangt. Ein venezianischer Beruf.» Und mit Blick auf ihr langes Haar fügte er hinzu: «Ein Männerberuf.»
Er schien der Meinung zu sein, dass er Nora schon genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, denn nun wandte er sich einem deutschen Paar zu, das lautstark seine Meinungsverschiedenheiten über einen Satz Trinkgläser austrug.
«Warten Sie», sagte Nora hastig auf Italienisch. Sie wusste,
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