Die Glasblaeserin von Murano
Leben.
Ganz vorne auf der Piazetta di San Marco stehen zwei hohe weiße Säulen. Auf der einen thront die Statue des heiligen Theodosius von Konstantinopel, auf der anderen ein geflügelter Löwe, den die Venezianer als Löwen des heüigen Markus umgedeutet haben. Die Pranken des Fabelwesens ruhen auf einem Buch, auf dem die berühmten Worte «Pax Tibi Marce Evangelista Meus» - «Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist» - stehen, mit denen die Engel den heiligen Markus von Venedig ansprachen. Ursprünglich waren es drei Säulen gewesen, die man im fernen Tyrus geraubt hatte, doch die dritte fiel beim Ausladen ins Meer und liegt noch heute auf dem Grund der Lagune. Zur selben Zeit, als Corradino seine Tochter zum ersten Mal sah, verlud man den Camelopard, von seiner Tournee durch die großen Höfe von Mailand, Genua und Turin müde und ausgemergelt, auf ein Schiff, das ihn nach Hause zu seinem Herrn, einem afrikanischen König, bringen sollte. Von zahlreichen Seilen um seinen langen Hals gehalten, war der Camelopard nur noch zwei kurze Schritte vom Schiff entfernt. Doch die Planke war rutschig vom Regen, und das Tier hatte Angst, das unruhige Wasser zu überqueren. Wie die Säule einige Jahrhunderte zuvor stürzte der Camelopard kopfüber in die Lagune, als seine Wärter in einem unbedachten Moment die Seile losließen. Er war so groß, dass sein edler Kopf aus dem Wasser ragte. Ängstlich verdrehte er seine feuchten braunen Augen, und seine schwarze Zunge schnellte immer wieder vor, wenn er Salzwasser schluckte. Eine rasch größer werdende Menschenmenge zog an den nassen Seilen, doch es gelang ihr nicht, das stelzbeinige Geschöpf zu retten. Innerhalb einer Stunde war der Camelopard tot. Friedlich sank er auf den Grund der Lagune, und in einer letzten anmutigen Geste senkte sich sein langer Hals mit dem müden Kopf auf die verlorene Säule aus Tyrus.
Kapitel 6
Der Spiegel
Verzweifelt schaute Nora in den Spiegel. Sie wusste, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Niemals hätte sie hierher kommen dürfen. Der zuversichtliche Ausdruck in ihren Augen war verschwunden.
Es war ihr zweiter Tag in Venedig, und sie machte zusammen mit anderen Gästen einen vom Hotel organisierten Ausflug nach Murano. Tausende mit Kameras behängte Touristen ließen sich jedes Jahr nach Murano hinüberfahren, um eine der Hauptattraktionen Venedigs zu besichtigen: die Glashütten Muranos, in denen Glasbläser seit Jahrhunderten die schönsten Glaskunstwerke der Welt herstellten. Natürlich wurden diese Ausflüge in erster Linie dazu genutzt, um den Touristen - vorzugsweise reichen Amerikanern und Japanern - teure Objekte aus Muranoglas zu verkaufen. Nora hatte den Höhepunkt der Tour schon hinter sich - einen fünfminütigen Rundgang durch eine Glaswerkstatt. Sie hatte den Männern bei der Arbeit zugesehen und beobachtet, wie sie konzentriert und geschickt - und zuweilen auch mit ein paar Showeffekten für die Zuschauer - das Glas bliesen und formten. Außerdem hatte sie die Gerätschaften und die Öfen inspiziert, von denen sich manche in den vergangenen vierhundert Jahren nur wenig verändert hatten. Sie wünschte sich so sehr dazuzugehören, dass sie ganz kribbelig wurde. Nora hatte selbst mit Glas gearbeitet und war dabei nicht ohne Erfolg gewesen. Dies hier war natürlich etwas anderes, und doch glaubte sie, ebenso gut zu sein wie die Glasbläser von Murano, wenn sie nur die Chance erhielte, das Handwerk zu erlernen. Vor sich hin träumend stand sie da, bis eine große Gruppe von Deutschen sie beiseite schob, um an die Kasse zu gelangen.
Damit sie ein Stückchen Nippes für ihren Esstisch in Hamburg kaufen und dann zu ihren Nachbarn sagen können: «Ja, das hier haben wir in Venedig entdeckt. Es ist echtes mundgeblasenes Muranoglas, müssen Sie wissen.»
Der Ausflug der Touristen war hier zu Ende - in diesem großen, hell erleuchteten, weiß getünchten Verkaufsraum, in dem Kunstwerke in den verschiedensten Formen und Farben angeboten wurden. Wohin man auch schaute, strahlte und funkelte Glas. In einem der Regale standen Pokale in Reih und Glied aufgereiht. Ihre strenge Anordnung bildete einen auffallenden Gegensatz zu den bunten, ein wenig verspielt wirkenden Spiralen, die sich durch ihre Stiele zogen. Kronleuchter von beeindruckender barocker Formenfülle hingen dicht an dicht von der Decke, ihre Arme ineinander verschlungen wie die Äste eines Zauberwalds. Daneben gab es Vögel und andere Tiere in
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