Die Glasblaeserin von Murano
nach einer Wohnung.» Sie wusste selbst am besten, wie dringend sie eine brauchte. Das Geld aus dem Verkauf von Belmont schmolz rasch dahin, nicht zuletzt wegen ihrer Hotelrechnung.
Der Beamte schien zu überlegen. «Ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann. Meine Cousine besitzt ein paar Wohnungen in San Polo. Wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen die ein oder andere zeigen. Vielleicht am Wochenende? Ich habe Samstag frei.»
Nora zögerte, da ihr der Abend mit Roberto und Luca noch allzu frisch in Erinnerung war. Aber dieser Mann war immerhin ein Staatsbeamter. Und sie brauchte wirklich eine Wohnung. Allerdings war sie entschlossen, Verabredungen in Zukunft nur noch für den helllichten Tag zu treffen.
«Wie wäre es um drei Uhr?»
Er nickte.
«Wo?», fragte sie.
Er erhob sich und hielt ihr die Tür auf. «Vielleicht in der Cantina - Zu den zwei Mohren? In San Polo.»
Wo sonst? Eine weithin bekannte, alt eingesessene venezianische Kneipe. Einer Touristin hätte er sicher «Florian» vorgeschlagen. Nora fühlte sich geschmeichelt. «Wunderbar.»
Als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, sagte er: «Ich bin Alessandro Bardolino.»
Wieder lächelte sie. «Also dann in den .»
Leonora - sie hatte beschlossen, sich ab jetzt so zu nennen - verließ die Questura. Allerdings wieder einmal ohne ihren permesso di lavoro.
Kapitel 8
La Bocca di Leone
Als Corradino zum ersten Mal auf die Glasbläserinsel kam, war er auf der Flucht.
Die Manins waren eine der mächtigsten und wohlhabendsten Familien Venedigs. Handelsgeschäfte am Schwarzen Meer und in der Levante bis nach Konstantinopel hatten ihnen ein beträchtliches Vermögen eingebracht. Und zu dem Zeitpunkt, als Corradino geboren wurde, hatten die Manins auch die dazugehörige politische Macht gewonnen.
Das Oberhaupt der Familie, Corrado Manin, lebte mit seinen jüngeren Zwillingsbrüdern Azolo und Ugolino in einem vornehmen Palazzo auf dem Campo Manin, einem Platz, der nach der Familie benannt war. Corrado nahm Maria Bovolo zur Frau, die einen guten Charakter und noch bessere Beziehungen hatte. Sie bekamen einen Sohn, den sie ebenfalls Corrado nannten, der aber zur Unterscheidung von seinem Vater Corradino gerufen wurde. Die Familie lebte einträchtig unter einem Dach. Ihr Haus war mit kostbaren Möbeln und vielen Dingen ausgestattet, die auf den Handelsschiffen der Manins nach Venedig gelangt waren. Es gab zahlreiche Dienstboten und sogar einen französischen Hauslehrer für den kleinen Corradino. Da die Geschäfte gut liefen, hatten die männlichen Familienmitglieder die Muße, sich auch politisch zu betätigen.
Doch in dem Sommer, als Corradino zehn war und zu einem gut erzogenen, intelligenten Jungen heranwuchs, wendete sich das Glück der Manins.
Corrado wurde in den Rat der Zehn gewählt, jene verschworene kleine Gruppe, die an der Spitze der Republik Venedig stand. Im selben Jahr wurde auch Azolo in den Rat aufgenommen. Ugolino dagegen war der Zugang aufgrund eines alten venezianischen Edikts verwehrt. Es schrieb vor, dass niemals mehr als zwei Mitglieder einer Familie zur selben Zeit dem Gremium angehören durften. Dadurch sollten Korruption und Vetternwirtschaft verhindert werden. Erreicht wurde allerdings meistens das Gegenteil.
Trotz des Grolls über seinen Ausschluss - denn immerhin war Ugolino eine halbe Stunde älter als sein Zwillingsbruder - unterstützte er seine Brüder bei ihren geheimen Bemühungen, Verbündete unter den Zehn zu finden. Sie hatten vor, den Dogen zu stürzen und Corrado an seine Stelle zu setzen. Corrado liebte zwar den Palazzo der Manins, doch war es natürlich etwas ganz anderes, im Dogenpalast zu leben und als Herzog von Venedig die Interessen der Familie zu vertreten! Corrados Streben war weniger von politischem Ehrgeiz als vielmehr von seiner übergroßen Liebe zu seiner Familie geprägt. Für sie hätte er alles getan.
Doch Venedig hatte immer schon zwei Gesichter gehabt. Wie die Nachtschwärmer in den Straßen, so trug auch die Stadt eine Maske. Unter der Oberfläche seiner reichen Kultur und Schönheit lauerten die Untiefen von Betrug und Verrat. Diese allgegenwärtige Bedrohung fand ihren Ausdruck in der Bocca di Leone, dem Löwenmaul.
Unmittelbar neben dem Dogenpalast befand sich das in Stein gemeißelte Reliefeines menschlichen Gesichts. Eine darunter angebrachte Inschrift forderte die Bürger von Venedig zu geheimer Denunziation auf: «Dinontie secrete contro chi
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