Die Glasblaeserin von Murano
Dienst musste sie jetzt in ihrem Alter doch wohl nicht diesem betrunkenen Burschen erweisen! Mit einem tiefen Seufzer fasste sie Roberto am Arm und half ihm, zur Tür hinauszutorkeln. Auf dem Weg zum Kanal schwankte er ein wenig, und Nora fragte sich schon, ob er sich wohl übergeben müsse, da lächelte er plötzlich, machte einen Schritt auf sie zu und drückte seine Lippen auf ihren Mund.
Nora war selbst erstaunt, wie prüde sie darauf reagierte. Sie stieß ihn unsanft weg und gab ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass er beinahe in den Kanal gestürzt wäre. Das brachte Roberto wieder zur Besinnung. Sein hübsches Gesicht verzerrte sich vor Wut. Nora bekam es mit der Angst zu tun. «Nun komm schon», sagte er und kam auf sie zu, «du schuldest mir noch was, du Manin-Schlampe.»
Da drehte sie sich um und rannte los.
Nora kam erst an der Haltestelle des Vaporetto zum Stehen. Siedend heiß fiel ihr ein, dass Roberto auch hierher kommen würde, da es die einzige Fermata auf der Insel war. Nervös schaute sie sich um, doch außer ihr war niemand weit und breit zu sehen. Es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als ein vorbeifahrendes Wassertaxi anzuhalten und zähneknirschend den überhöhten Preis für die Rückfahrt zu ihrem Hotel zu zahlen.
Schon am nächsten Tag bekam sie die Quittung für ihr Verhalten. Roberto war offensichtlich nicht untätig gewesen, keiner der Männer sprach auch nur ein Wort mit ihr. Sie fragte sich, was er ihnen Schlimmes über sie erzählt haben mochte, da sogar der umgängliche Luca sie geflissentlich ignorierte. Roberto selbst ließ sie entweder links liegen oder tat sein Bestes, um ihr mit kleinen Schikanen das Leben schwer zu machen. Ihr Werkzeug war auf einmal unauffindbar, ihre kleinen Probestücke aus Glas zerbrochen. Mit wachsendem Unglauben musste Nora erkennen, dass sie regelrecht gemobbt wurde. Sie hätte nie gedacht, dass ein Mann so rachsüchtig reagierte, nur weil eine Frau seine Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte. Sie war eher davon ausgegangen, dass sie nach dem Vorfall für Roberto einfach Luft sein würde. Zuweilen begegneten sich ihre Blicke, und dann starrte er sie so hasserfüllt an, dass sie jedes Mal erschrak. Nora war davon überzeugt, dass hinter seinem Hass mehr steckte als gekränkter Stolz.
Aber was kann das nur sein? Ich kenne den Mann doch kaum. Ob er gestört ist?
Jetzt hatte sie niemanden mehr zum Reden, außer einer mitleidigen Seele namens Francesco, der ihr hin und wieder mit ernster Miene ein paar Handgriffe zeigte und ihren Dank mit einem schüchternen Kopfnicken beantwortete. Sie wusste, dass alle nur daraufwarteten, dass sie aufgab.
Gelegentlich kam Adelino hinunter in die Werkstatt. Nora war froh über seine Anwesenheit, denn solange er da war, wurde sie nicht schikaniert. Ihr war klar, dass er bei diesen Gelegenheiten ihre Arbeit begutachtete, aber bisher hatte er sich noch nicht dazu geäußert.
Doch trotz ihrer Außenseiterrolle, trotz des Mobbings wusste sie, dass sie immer besser wurde. Da sie niemanden hatte, der sich um sie kümmerte und mit ihr sprach, wurde das Glas ihr Freund. Sie wurde in einem Maße vertraut mit ihm, wie es nie geschehen wäre, wenn sie an den Plaudereien und Neckereien der anderen teilgenommen hätte.
Zum jetzigen Zeitpunkt ihrer Ausbildung bestand ihre Aufgabe lediglich darin, die Glasmasse zu schmelzen, sie von Verunreinigungen zu befreien und ab und zu einen Külbel zu blasen. Darüber hinaus musste sie das Glas abkühlen und wieder erhitzen. Nora fing an, dieses Gemisch aus Kieselerde und Sand als einen lebenden Organismus zu betrachten. Die Tatsache, dass es ebenso gierig wie jedes andere Lebewesen Sauerstoff einatmete, war für sie ein Zeichen, dass es lebte. Außerdem war es sprunghaft - mal rot glühend, bald darauf honiggelb und schließlich klar wie Kristall. Es war von wechselnder Beschaffenheit, zuweilen dickflüssig wie Sirup, dann wieder hart wie Stahl. Sie konnte sich gut vorstellen, dass man zu Corradinos Zeit Messer aus Glas gemacht hatte - tödlich, lautlos und sauber.
Corradino. Nora musste oft an ihn denken. Ihr war, als sei das Glas eine Verbindungslinie zwischen ihnen, dünn und gespannt wie eine Cellosaite, deren leiser, vibrierender Klang die Jahrhunderte überwand.
Er ist hier bei mir. Es ist mir egal, wenn alle anderen mich links liegen lassen. Mit ihm kann ich sprechen. Als würde sie es förmlich aufsaugen, wurde Noras Italienisch, das zuvor schon gut gewesen war, bald
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