Die Glasblaeserin von Murano
occultera gratie et offichii o colludera per nasconder la vera rendita d'essi.» Wer etwas gegen einen seiner Mitbürger vorzubringen hatte, konnte seinen Verdacht aufschreiben und das Papier in den Schlitz im Mund stecken. Dann nahm sich der Maggior Consiglio schnell und gründlich der Angelegenheit an.
Viele solcher Briefkästen zierten die Mauern der Stadt; ihre jeweiligen Inschriften verkündeten, welche Vergehen man hier anzeigen konnte - Steuerhinterziehung, Wucher, unlauteren Handel. Das Gesicht am Dogenpalast war ausschließlich dem schwersten aller Verbrechen vorbehalten - dem politischen Hochverrat.
Am Tag der Festa del Redentore im Hochsommer, als die kühlen Räume des Palastes leer standen und das Lärmen der Feiernden in der Ferne zu hören war, ließ eine Hand einen Zettel in die unergründliche schwarze Tiefe des Mundes fallen. Dieser trug den Namen Corrado Manin, und die Hand gehörte Ugolino, seinem Bruder.
In derselben Sekunde, in der der Zettel durch den Schlitz rutschte, bereute Ugolino seine Tat. So sehr, dass er erwog, in den schwarzen Schlund zu greifen und sich ihn zurückzuholen. Die hasserfüllten steinernen Augen blickten ihn jedoch so drohend an, dass er Angst bekam. Er hätte das Papier zurückverlangen können, aber von wem? Die Denunziationen verliefen anonym; er wusste nicht, bei wem der Zettel landete. Hätte er versucht, in das Allerheiligste des Dogenpalastes einzudringen und ihn zurückzuholen, so hätte das womöglich seinen eigenen Tod bedeutet. Er wusste, dass jeder Name, den das Maul verschlang, alsbald den Zehn zu Ohren kam. Und - wie man in ganz Europa wusste - ein Wort der Zehn kam einem Todesurteil gleich. Todunglücklich wankte Ugolino die gewaltige Treppe hinab, wo ihn Mars und Neptun, die riesigen steinernen Wächter, mit ihren leeren weißen Augen anstarrten. Von der Sonne geblendet schleppte sich Ugolino über die Piazza San Marco. Wie er erwartet hatte, war der große Platz menschenleer. Es war der einzige Tag, an dem man ungesehen ein solches Verbrechen begehen konnte, da sich alle Einwohner von Venedig am Ufer des Giudecca-Kanals am anderen Ende der Stadt versammelt hatten. Alle wollte das Schauspiel sehen, wenn die Boote eine Brücke über den Kanal bis zur Pforte der Kirche II Redentore bildeten. Ugolino sah förmlich vor sich, wie die Gläubigen, Jesus Christus gleich, über das Wasser zur Kirche gingen, um Gott für die Erlösung von der Pest im Jahre 1577 zu danken. Erlösung. Die hätte er jetzt bitter nötig. Unwillkürlich gaben seine Beine unter ihm nach. Er sank auf dem harten Pflaster in die Knie und blieb einen Augenblick lang zusammengekauert hocken. Doch noch hatte er keine Zeit zum Beten, er musste noch etwas erledigen. Entschlossen sprang er auf und ging über den sonnenbeschienenen Platz in das Gewirr der dunklen, engen Calli hinein, noch immer geblendet, doch nun von seinen eigenen Tränen. Er musste an seine Brüder denken und an seine Schwägerin Maria. Am schlimmsten aber war der Gedanke an den kleinen Corradino. Er hatte sie alle dem sicheren Tod ausgeliefert. Außer, wenn ... Ugolino wusste, was er zu tun hatte.
Corradino spürte im Schlaf, wie sich kalte Lippen auf seine warme Wange pressten, und sah beim Erwachen im Schein einer einzigen Kerze das Gesicht seines Vaters über sich gebeugt. Der Rest des Zimmers lag in völliger Dunkelheit. Sein Vater hatte ein angestrengtes Lächeln aufgesetzt. «Wach auf, Corradino mio. Wir werden ein Abenteuer erleben.»
Corradino rieb sich die Augen. «Wohin gehen wir, Papa?», fragte er neugierig.
«Auf die Pescheria.»
Den Fischmarkt? Corradino sprang aus dem Bett und begann sich anzukleiden. Er war schon früher auf dem Fischmarkt am Rialto gewesen, doch immer nur mit Rafaella, der Magd. Noch niemals mit seinem Vater.
Aber stimmt ja, man muss früh dorthin gehen - die Fischer bringen ihren Fang im Morgengrauen.
«Schnell, meinÄffchen. Presto, piccola Scimmia.»
Als sie schon hinausgehen wollten, sagte Corrado: «Warte, Scimmia. Du kannst eine Sache aus deinem Zimmer mitnehmen. Such dir das aus, was du am allerliebsten hast, Corradino.»
Corradino war verwirrt. «Warum?»
«Weil wir vielleicht ein bisschen länger wegbleiben müssen. Schau mal - ich habe mir auch schon etwas ausgesucht.» Der Vater öffnete seinen Mantel, und Corradino konnte undeutlich die Umrisse eines Buches erkennen.
Das muss das Buch von diesem Dante sein. Das mit der Komödie. Vater liebt es sehr. Vielleicht,
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