Die Glasblaeserin von Murano
hin. Er wusste, dass er überwacht wurde, hatte sich aber nach all den Jahren daran gewöhnt. Wohl war ihm dabei zwar ganz und gar nicht, aber er hatte gelernt, den Gedanken daran weitgehend auszublenden.
Daran erinnert wurde er, wenn er die Blicke bemerkte, die ihn unverhofft aus dem Schutz der Dunkelheit trafen. Der Mann, der an der Anlegestelle des Traghetto wartete ... Der Süßwarenhändler auf der Straße, der ihn ein wenig zu eingehend musterte ... Die Kurtisane auf dem Ponte delle Trette mit ihrem warmen Lächeln und den Augen wie Stein. Tausend verschiedene Masken an tausend verschiedenen Orten. Obwohl sie sich diskret im Hintergrund hielten, hatte Corradino im Laufe der Jahre die Fähigkeit entwickelt, sie im Bruchteil einer Sekunde zu erkennen. Jedes Mal, wenn er einem dieser Spitzel flüchtig in die Augen schaute - gleichgültig, ob dieser nun groß oder klein war, Mann oder Frau -, beschlich Corradino das beklemmende Gefühl, als sei es immer derselbe Agent. Das schwarze Phantom, das vor so vielen Jahren in der Fondaria nach ihm gesucht hatte.
Der Mann, der meine Familie umgebracht hat.
Aber Baccia hatte doch gewiss nichts zu befürchten, oder? Er stand voll und ganz hinter den Machthabern. Corradino war bekannt, dass der Rat teilweise für Baccias Miete aufkam und dass es bei den vorgeblich geselligen Zusammenkünften im «Do Mori» oft um Fragen der Politik ging. Und dennoch - der Proprietario fühlte sich eindeutig nicht wohl in seiner Haut. Schließlich trat er zu Corradino, dem beim Begrüßungskuss der Schweißfilm auf Baccias Wange nicht entging.
«Antonio», begann Corradino ohne Umschweife, als der andere schwerfällig auf dem Brokatsofa ihm gegenüber Platz genommen hatte, «warum wolltest du mich sehen? Willst du etwa noch mehr Spiegel, damit es in deinem Cafe bald wie in einem Bordell aussieht?»
Baccia wirkte tatsächlich krank, als er sich jetzt zu Corradino vorneigte und ihm keuchend seinen nach Wein riechenden Atem ins Gesicht blies. «Corradino, hör gut zu. Lehn dich auf deinem Sitz zurück.»
«Was -?», setzte Corradino verdutzt zum Sprechen an, doch sein Freund unterstrich seine Worte mit einem heftigen Kopfnicken und brachte Corradino so zum Schweigen. Corradino überlegte einen Moment, dann lehnte er sich immer weiter zurück, ganz so wie Baccia ihm gesagt hatte. So weit, bis seine Schultern den Rücken des Herrn berührten, der auf der anderen Seite der Bank saß. Er wollte sich gerade entschuldigend zu dem Mann umdrehen, da drang eine fremde Stimme an sein Ohr.
«Nein. Dreht Euch nicht um. Wir werden beobachtet.»
Obgleich in perfektem Italienisch gesprochen, schwang in den Worten doch ein französischer Akzent mit, der Corradino an seinen ehemaligen Französischlehrer erinnerte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, als ihm plötzlich seine Kindheit in den Sinn kam.
«Monsieur Loisy?» Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht umzudrehen und den Mann zu umarmen.
«Nein. Mein Name ist Duparcmieur. Gaston Duparcmieur. Wir sind uns noch nie begegnet. Doch mit der Zeit werdet Ihr mich schon besser kennenlernen.» In der befehlsgewohnten Stimme schwang eine leise Belustigung mit.
Corradino ärgerte sich über seinen Irrtum. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sich lächerlich gemacht zu haben. Deshalb wandte er sich in scharfem Ton an den unbehaglich dabeisitzenden Baccia. «Was soll das alles? Ich habe keine Lust, mich in Gefahr zu bringen.»
Er spürte, wie sich die fremden Schultern bewegten, und hörte wieder die feste, leicht amüsierte Stimme des Franzosen. «Ihr seid immer in Gefahr gewesen, Corradino. Seit dem Tag, als Euer Onkel Ugolino Eure Familie an die Zehn verriet und Ihr alle fliehen musstet. Wisst Ihr eigentlich, dass es Ugolino war, der am Ende den Agenten der Republik auch das Versteck Eurer Familie preisgab? Er erkaufte seine eigene Sicherheit mit dem Leben Eurer Mutter, doch er wurde betrogen - sie töteten auch ihn und ließen Euch allein zurück, mein kleiner Glasbläser.»
Erregt sprang Corradino auf, fand sich jedoch sogleich in der bärenhaften Umarmung des Proprietario wieder, der ihn auf beide Wangen küsste und weithin hörbar rief: «Das wäre also abgemacht! Noch zwei Spiegel für den Salon. Und sie müssen genauso kunstvoll werden wie deine übrigen.» Er zog Corradino eng an sich und zischte ihm ins Ohr: «Corradino, verlier jetzt um Himmels willen nicht die Nerven! Dreh dich nicht um, denn wir werden beobachtet. Du
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