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Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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abendlichen Besuch Lebewohl sagen wollen. Endlich stand Giacomo auf und zog die Decke über das Gesicht, das ihm so lieb und teuer war. Dabei stieß er die Klage aller Väter aus, die einen Sohn verloren hatten. «Herr, warum hast du nicht mich genommen?»
    Erst spät am Abend kam Giacomo zur Ruhe. Es war der schlimmste Tag in seinem langen Leben gewesen, und er hatte nur noch einen Wunsch: einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Nachdem er dem Bürgermeister von Murano Corradinos Ableben gemeldet hatte, schickte dieser einen Arzt, der die Leichenschau vornehmen sollte. Der Arzt stach Corradino mit einer Nadel, schnitt ihm ein paar Haare ab und entnahm ihm ein wenig Blut. Giacomo war klar, dass diese gründliche Untersuchung im Auftrag der Zehn geschah. Mit seinem schwarzen Umhang und der weißen Maske, deren langer Schnabel zum Schutz gegen Ansteckung mit Kräutern ausgestopft war, wirkte der Doktor wie ein Geier, der gekommen war, sich an Corradinos sterblichen Überresten zu laben. Doch Giacomo wusste, dass der Rat nur ganz sichergehen wollte, wann immer er einen seiner Handlanger verlor. Oder einen seiner Feinde. Daher ließ der alte Mann den Arzt wohl oder übel gewähren, bat ihn jedoch, ihm den Leichnam zu überlassen, damit er die althergebrachten Rituale vollziehen konnte. Da die Leichenschau abgeschlossen war, sah der Arzt keinen Grund, ihm diesen Wunsch abzuschlagen, und so wurde Corradinos Leiche zu Giacomos Haus gebracht und dort aufgebahrt. Giacomo half den Frauen, die er für ihre Dienste bezahlte, den Leichnam herzurichten. Sie wuschen sein Gesicht und kämmten sein Haar. Dann banden sie ihm die Füße zusammen und den Unterkiefer hoch. Bei Kerzenschein nähten die Frauen den Toten in Sackleinwand ein, während Giacomo dabeistand und zusah, wie das geliebte Gesicht unter dem Leichentuch verschwand. Als er einen letzten Blick auf Corradino warf, stellte er fest, wie gut dieser selbst noch im Tode aussah. Seine Locken glänzten im Licht der Kerzen, die Wangen    waren rosig überhaucht, und die geschlossenen Augen mit den langen Wimpern wirkten, als wolle er sie jeden Augenblick aufschlagen. Es schien fast, als schliefe er. Mit gebrochenem Herzen wandte sich Giacomo ab.
    Schließlich kamen zwei Bedienstete der Stadt, um den Leichnam auf das Boot zu schaffen, das ihn zur Friedhofsinsel Sant' Adriano bringen sollte.
    Giacomo wollte seinem Freund das letzte Geleit bis zur Insel geben, doch die Männer wehrten ab.
    «Signore», sagte der Größere von beiden mitfühlend, «wir haben noch weitere Tote an Bord. Da ist für Euch kein Platz.»
    Dann war Corradino fort, und auch die Frauen gingen, nachdem sie prüfend auf die Münzen gebissen und Giacomo dafür gedankt hatten.
    Wieder war er allein, wie schon am vergangenen Abend, bevor seine Welt in Trümmer gefallen war. Nun hätte er endlich in Ruhe um den verlorenen Freund - den Sohn - weinen können, doch er hatte keine Tränen mehr. Voller Trauer nahm er, wie am Abend zuvor, seine Viola zur Hand. Doch was war das? Zwischen den Saiten klemmte ein Stückchen Pergament. Dieses feine Florentiner Pergament hätte Giacomo überall erkannt: Es stammte aus Corradinos Büchlein. Jetzt erinnerte sich Giacomo, wie er Corradino bei seinem Besuch genötigt hatte, sich neben ihn auf die Bank zu setzen - direkt neben das Instrument. Sein Herz schlug wie wild. Mit zitternden Fingern zog der alte Mann das Zettelchen zwischen den Saiten hervor.
    Da Corradino bereits mit zehn Jahren den Unterricht bei Monsieur Loisy hatte abbrechen müssen, war er mit der Feder nicht sehr gewandt. Doch alles war akkurat geschrieben und deutlich erkennbar. Mitten auf dem Blatt
    standen, sorgsam gemalt, die lateinischen Worte: Non omnis moriar.
    Corradino war auch im Lesen nicht allzu bewandert gewesen. Das einzige Buch, das er wirklich gut kannte, war Dantes «Göttliche Komödie». Giacomo dagegen war ein gebildeter Mann. Er brauchte nicht erst lange in seinen Büchern zu blättern, um diese Worte von Horaz zu verstehen. Auf einmal passte alles zusammen - Corradinos rosige Wangen, sein glänzendes Haar auf dem Totenbett, der innige Abschied gestern Abend.
    «Non omnis moriar» - das bedeutet «ich werde nicht gänzlich sterben».
    Giacomo drückte das Pergamentblatt an sein Herz, bevor er es behutsam zwischen die Seiten seiner eigenen Danteausgabe legte. Als er das Buch zuklappte, lächelte er zum ersten Mal an diesem Tag.
    Corradino war noch am Leben.
     

Kapitel 19
    Das

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