Die Glasblaeserin von Murano
wird.
«Stimmt das? Werden Sie die Kampagne abblasen?»
Mit ausdruckslosem Gesicht drehte sich Adelino zu Leonora um. «Was soll ich denn machen?» Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und warf einen Blick auf die fette Schlagzeile: «Verrat auf Murano». Daneben das Bild mit dem unschuldig dreinblickenden zehnjährigen Corradino und ihr selbst, in Jeans und Weste am Glasofen stehend.
Aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken drängte einer an die Oberfläche, der kurze Zeit später ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Ich muss mich übergeben.
Sie stürzte aus dem Arbeitszimmer und rannte durch die Fondaria bis zum Kanal, wo sie sich krampfhaft erbrach. Wie hätte sie wissen sollen, dass Corradino dreihundertfünfzig Jahre zuvor das Gleiche getan hatte, in der Nacht, bevor er zum Verräter wurde?
Kapitel 20
Die Scharf sieht des Alters
An diesem Abend fuhr sie niedergeschlagen und zornig nach Hause. Ihr war noch immer schlecht, und selbst der romantische Anblick der Lichter von San Marco vermochte sie nicht aufzuheitern. Sie verließ das Boot an den Zattere und wartete auf das Vaporetto der Linie 1, das sie durch den Canal Grande zum Campo Manin bringen sollte. Als das Boot mit dröhnendem Motor anlegte und von einem jungen Mann geschickt vertäut wurde, dachte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder an ihren Vater. Verglichen mit der Beziehung, die sie mit dem vor so langer Zeit verstorbenen Corradino verband, erschien ihr Brunos Existenz flüchtig und schemenhaft. Ihr wurde langsam klar, wie stolz sie auf Corradino gewesen, wie viel Liebe sie für ihn empfunden hatte. Es hatte sie härter getroffen, als wäre ihr eigener Vater des Verrats angeklagt worden. Roberto del Pieros Vorwürfe hatten sie vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht. Leonora kam sich hilflos und verwundbar vor. Noch nicht einmal der Anblick der Paläste, die im silbernen Zwielicht die Ufer des Canal Grande säumten, war ihr ein Trost.
Die Dunkelheit senkte sich langsam herab, und plötzlich sahen die Fassaden der Häuser gar nicht mehr so heiter aus, wie sie es tagsüber taten. Die schönen Fenster blickten Leonora ausdruckslos und abweisend an. Sie hätte zu gern gewusst, ob Corradino zu geheimen Treffen in diese Gebäude geeilt war, bevor er seine Vaterstadt verriet. Als sie das Boot bei Santa Stephano verließ und mit gesenktem Kopf durch die finsteren Calli zum Campo Manin lief, wuchs ihre Beklommenheit. Sie hatte das Gefühl, jemand sei hinter ihr her, als würden jeden Augenblick leise Schritte aus den Schatten hinter ihr erklingen.
Wenn er das wirklich getan hat, hat das auch für mich große Auswirkungen. Corradinos Schande zieht mich mit in den Schmutz.
Die vertrauten Häuser am Campo Manin boten Leonora an diesem Abend keine Sicherheit. Noch immer fühlte sie sich verfolgt.
Schau nicht hin!
Sie schalt sich eine Närrin. Wovor fürchtete sie sich? Doch es nützte nichts - immerhin hatte sie keine Angst vor irgendwelchen Spukgestalten, sondern vor Roberto del Piero, der in ihren Augen eine konkrete Bedrohung darstellte. Durch ihre Schuld - so glaubte er wenigstens - war seine Karriere in der Fondaria zu Ende und seine Familientradition nichts mehr wert. Selbstverständlich konnte er woanders Arbeit finden, doch sie war es, die ihn aus seiner angestammten Umgebung hinausgedrängt und - noch schlimmer - seinen Aufstieg verhindert hatte. Da war es weiß Gott kein Hirngespinst, zu glauben, dass er sich an ihr rächen würde.
Leonora lief über das noch immer warme Pflaster des Campo und tastete dabei in ihrer Tasche nach den Schlüsseln. Wie ein Kind, das seinen unsichtbaren Häschern entkommen will.
Wenn ich es bloß bis zur Tür schaffe ...
Fahrig fummelte sie mit dem Schlüssel im Schloss herum. Dabei rechnete sie jeden Augenblick damit, dass sich eine Hand auf ihren Arm legen oder ihr die Kehle zudrücken würde. Endlich drehte sich der Schlüssel im Schloss. Leonora stieß die Tür auf und stürzte in den Flur. Dann lehnte sie sich im Dunkeln schwer atmend gegen die geschlossene Tür. Als wenige Sekunden später das Telefon klingelte, fuhr sie entsetzt zusammen. Vor Angst bebend ging sie in die Küche und nahm den Hörer ab. Doch am anderen Ende ertönte kein heiseres Krächzen wie in einem Horrorfilm. Er war es.
«Alessandro!»
Erleichtert ließ sie sich in einen Sessel fallen und schaltete die Lampe ein. Ihr heller Schein und der Klang der lang ersehnten Stimme vertrieben die Schreckgespenster.
Er lachte
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