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Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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gesenktem Kopf saß sie da, das Gesicht halb hinter ihren Haaren verborgen, und ihre Lippen bewegten sich. Also betete sie wohl. Alessandro bekreuzigte sich, aber gleich darauf sah er, dass sie die Augen geöffnet hatte und ganz entspannt wirkte. Da wurde ihm klar, dass sie sich mit ihrem Vater unterhielt.
    Hinterher wusste Leonora nicht mehr zu sagen, wie lange sie geredet hatte. Sie hatte ihrem Vater ihr ganzes Leben geschildert: ihre Kindheit, die Liebe zur Kunst und zu Stephen, ihre Kinderlosigkeit, die Scheidung, den Umzug nach Venedig, Murano, das Haus auf dem Campo Manin und Alessandro. Sie berichtete ihm von Corradino und davon, was ihr - gemeinsamer - Vorfahr ihr bedeutete. Sie erzählte ihrem Vater von dem Verdacht gegen Corradino, von Roberto, Vittoria und Professore Padovani. Und dann erwähnte sie noch Elinor, die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Tochter, und fragte Bruno nach der Elinor, die er gekannt hatte -jene romantische und unbekümmerte Elinor, die so anders gewesen sein musste als die pragmatische und in Bezug auf Männer ein wenig verbitterte Frau, die Leonora kannte. Sie redete sich alles vom Herzen und fühlte sich danach besser.
    Schließlich blickte sie auf und gab Alessandro, der in der Nähe umherschlenderte, ein Zeichen, dass sie sich auf den Weg machen konnten. Bevor sie ging, drehte sich Leonora jedoch noch einmal zum Grab ihres Vaters um. Sie legte die Hand auf den warmen Stein und sagte zärtlich: «Auf Wiedersehen. Ich komme wieder.»
    Ganz bestimmt.
    Alessandro und Leonora schlenderten zur Haltestelle des Vaporetto zurück, bereit, abermals den Styx zu überqueren. Doch diesmal würden sie aus dem Land der Toten in das der Lebenden zurückkehren. Obwohl Leonora darauf brannte, die Insel möglichst schnell wieder zu verlassen, hätte sie doch die Begegnung mit ihrem Vater nicht missen wollen. Sie hatte das Gefühl, hier ihren inneren Frieden wiedergefunden zu haben. Es war leicht gewesen, mit Bruno zu reden, viel leichter, als sie geglaubt hatte. Sie hatte ihm alles erzählt. Fast alles. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich schwanger bin.
     

Kapitel 22
    Die Insel der Toten II
    Wie es zwischen meinen Zähnen knirscht - so als hätte ich Sand im Mund.
    In seinem Traum war Corradino wieder mit seiner Mutter auf dem Lido di Venezia. Es war Sommer, und der ganze Haushalt befand sich auf einem Ausflug. Die Diener brieten am Strand Austern, während der kleine Corradino immer wieder ein paar Schritte in die leise rauschende Brandung hineinrannte, bis seine Kniehosen    durchweicht waren. Als man ihn zum Essen rief, ließ er sich auf den roten Samtkissen nieder und schmiegte sich in den Arm seiner Mutter. Sie roch nach Vanille. Zum ersten Mal in seinem Leben kostete er eine Auster und fand nach anfänglichem Zögern Geschmack daran, wie die gallertartige Masse durch seine Kehle rutschte. An diesem Tag entstand seine lebenslange Vorliebe für diese Speise. Zusammen mit ihrem Geschmack hinterließ die Auster ein paar Sandkörner auf seiner Zunge, wie der Sand, den die Flut anschwemmt.
    Sein Traum brachte den Sand zurück, den Geschmack der Auster und zugleich den Vanilleduft seiner Mutter. Doch als er erwachte, waren das Glück und die Freude jenes Sommertages dahin.
    Er spürte die raue Sackleinwand, die sich auf seinem Gesicht anfühlte wie ein Kuss seines Onkels Ugolino. Dessen Bartstoppeln hatten ihn immer gekratzt, wenn er ihn, Corradino, in den Arm genommen hatte und einen Kuss auf seine Stirn gedrückt hatte. Den Judaskuss.
    Um besser Luft zu bekommen, drehte Corradino seinen Kopf leicht zur rechten Seite. Duparcmieur hatte ihm versichert, dass sein Grab an einem alten Schacht liegen würde, der ihn in Höhe seines Kopfes mit Luft versorgen würde. Corradino konnte jetzt ein klein wenig freier atmen, doch noch immer war es erstickend heiß und beängstigend eng. Als er den Kopf bewegte, spürte er etwas Kaltes auf seinem Gesicht. Das mussten die zwei Dukaten sein, die Giacomo ihm auf die Augenlider gelegt hatte, als Bezahlung für den Fährmann, der den Toten in die Unterwelt hinüberrudern sollte. Sie rutschten an seinem Gesicht vorbei hinunter auf den Boden. Binnen weniger Sekunden war Corradino schweißüberströmt, weil eine Woge von Panik ihm die Kehle zuschnürte. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er sich daran    hindern, nicht schreiend um sich zu schlagen. Wie versprochen hatten sie ihn nicht gefesselt, doch das wäre auch nicht nötig gewesen - er spürte

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