Die Glasblaeserin von Murano
können. Sie hielt es umfasst, als sie mit weichen Knien unsicher über den Korridor zurückging und schüchtern wieder in das Zimmer des Professors trat. Padovani erhob sich bei ihrem Eintritt und blickte sie besorgt an. Mit einigen entschuldigenden Worten nahm Leonora Platz.
«Verzeihen Sie bitte, aber mir ist schon seit ein paar Tagen nicht gut.»
Der Professore warf ihr einen prüfenden Blick zu. Dann erzählte er weiter.
«Corrados Tochter hieß auch Leonora. Sie entstammte einer unehelichen Beziehung zwischen Corrado und einer Adeligen namens Angelina dei Vescovi, die bei der Geburt ihres Kindes starb. Man brachte Leonora in das Waisenhaus der Pietä, wo sie Musikunterricht erhielt. Zwar trug sie den Namen Manin, doch Familiennamen wurden in der Pietä niemals genannt. Stattdessen bezeichnete man die Mädchen mit dem Namen des Instruments, das sie spielten - cello, violino und so weiter -, damit die Anonymität der Kinder, die teilweise aus höchsten Kreisen stammten, gewahrt blieb. Im Waisenhaus also hieß sie daher immer nur Leonora dalla viola, nach dem Instrument, das sie vortrefflich beherrschte. Selbst die Zehn mussten die Geheimnisse der Pietä respektieren, da sich die Stiftung auf das kirchliche Asylrecht berufen konnte. Niemand erfuhr etwas über ihre Herkunft, da Corradino sich hütete, etwas zu verraten. Ein Jahrzehnt nach Corradinos Tod machte ein entfernter Cousin - ein Mailänder namens Lorenzo Visconti-Manin - Leonora ausfindig, als er sich auf die Suche nach den verstreuten Mitgliedern seiner Familie begab. Die beiden verliebten sich ineinander und heirateten. So kam Corradinos Tochter wieder zu ihrem rechtmäßigen Namen. In den folgenden Jahrzehnten stiegen die Manins in Venedig noch einmal zu Macht und Ansehen auf. Dieser Aufstieg fand seinen Höhepunkt in Lodovico Manin, dem letzten Dogen vor dem Fall der Republik Venedig.»
Um Leonora drehte sich alles, doch diesmal war es kein Anfall von Übelkeit. «Also ist Corradino aus Sorge um die Sicherheit seiner Tochter in Venedig geblieben?»
«Nein», erwiderte der Professor ernst. «Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Zehn wussten offensichtlich nichts von dem Kind, das heimlich von seinem Großvater in die Pietä gebracht worden war, Angelina hatte den Namen ihres Liebhabers mit ins Grab genommen. Aber ich nehme stark an, dass Corradino Leonora nicht allein in Venedig zurückgelassen hätte - was für einen Grund sollte es dafür auch gegeben haben? Natürlich war es für ihn ein großes Risiko, seine Tochter in der Pietä zu besuchen, doch es war nicht unmöglich. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass er dieser Versuchung widerstehen konnte.»
Leonora schwieg. Sie musste die Neuigkeiten erst einmal verdauen.
Die Geschichte mit dem Verrat könnte also durchaus wahr sein, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich ist. Und jetzt taucht auch noch dieses Mädchen auf, das meinen Namen trug, mutterseelenallein in der Pieta lebte und Trost in der Musik suchte. Wenigstens hat sie am Ende die große Liebe gefunden.
«Wie kann ich noch mehr darüber in Erfahrung bringen?», fragte sie schließlich. «Gibt es eine Möglichkeit, herauszufinden, ob Corradino Venedig nun verlassen hat oder nicht?»
«Sie könnten es in der großen Bibliothek von San Marco - der Sansoviniana - probieren. Dort gibt es Zunftbücher und jahrhundertealte Geburts- und Sterbeurkunden, die man einsehen kann. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich über Corradinos Leben weiß, den Rest erfahren Sie aus den Quellen seiner Zeit. Dasselbe habe ich damals übrigens auch Elinor gesagt.» Der Professore stand auf und streckte vorsichtig sein krankes Bein. «Ich kann Ihnen nur empfehlen, es daneben auch in Frankreich zu versuchen. So erfahren Sie am schnellsten, ob er dort war oder nicht. Ich habe ein paar Kontakte zur Sorbonne, die Ihnen nützlich sein könnten.»
Leonora erhob sich ebenfalls. «Darf ich Sie noch einmal besuchen kommen - und würden Sie mich anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt?»
«Selbstverständlich. Und wenn Sie Einblick in die wertvollen Bestände der Sansoviniana nehmen wollen, dürfen Sie sich gern auf mich berufen.»
Ich kann mich noch an meinen ersten Tag in Venedig erinnern, als man mir gerade mal einen Tagesausweis ausgestellt hat. Und jetzt soll ich sogar bis ins Allerheiligste vordringen.
Während der Professor an seinem Schreibtisch ein paar Nummern und Bezeichnungen verschiedener Dokumentensammlungen aufschrieb, die
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