Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Glasblaeserin von Murano

Die Glasblaeserin von Murano

Titel: Die Glasblaeserin von Murano Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
Vom Netzwerk:
wird als der protestantische und der griechisch-orthodoxe», fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu. «Dein Vater und meine nonna haben also Glück gehabt.»
    Leonora nahm an, dass der leichte Spott, der in seinen Worten mitschwang, seine Art war, mit dem Tod umzugehen. Trotz aller Neugier auf diese seltsame Insel, die ausschließlich den Toten vorbehalten war, verspürte sie doch ein leichtes Unbehagen. Leonora überlegte, dass es schrecklich sein musste, an den Fondamenta Nuove zu wohnen. Vermutlich konnte man dort abends vom Fenster aus sehen, wie die grünlich schillernden Geister der Toten über der Insel aufstiegen. Leonora schüttelte sich kurz und fragte: «Wann ist San Michele denn eine Friedhofsinsel geworden?»
    «Zur Zeit Napoleons. Vorher brachte man die Verstorbenen nach Sant' Adriano, das jetzt nur noch ein Ossarium ist.»
    «Ein was?»
    «Eine Knocheninsel.» So wie Alessandro das Wort aussprach, konnte man fast denken, es handele sich um den Titel eines spannenden Romans. «Wenn die Zeit für die Toten hier abgelaufen ist, werden sie nach Sant' Adriano gebracht, um Platz für andere zu schaffen.»
    «Was soll denn das heißen?»
    Alessandro schlug den Weg zum katholischen Friedhof ein. «Das heißt, dass die Venezianer nur für eine gewisse Zeit hier liegen dürfen.» Er bemerkte Leonoras entgeisterten Gesichtsausdruck und fügte schnell hinzu: «Das muss so sein, da der Platz begrenzt ist.» Er zuckte gleichgültig mit den Schultern.
    «Ich meinte nur...»
    «Oh, ich verstehe schon. Du dachtest, er könnte vielleicht nicht mehr hier sein? Doch, bestimmt. Ich glaube, die Frist beträgt vierzig Jahre, und wenn die Verwandten dafür bezahlen, kann man auch noch länger hier liegen.»
    Leonora war zornig darüber, dass es hier keine Beständigkeit gab, keine ewige Ruhe. Doch als sie sah, wie die Hinterbliebenen still zwischen den Gräbern umhergingen, beruhigte sie sich wieder. Diese letzte Ruhe, die nicht von Dauer war, passte sehr gut zu dem unruhigen Seefahrervolk. Ihr ganzes Leben lang kreuzten die Menschen von Venedig zwischen den Inseln hin und her, von Rialto nach San Marco, von Giudecca zum Lido, von Torcello nach Murano. Warum sollte sich dieser unablässige Fluss der Dinge nicht auch im Tode so fortsetzen wie im Leben? Was würde diesen Händlern und Seefahrern, die früher an den Zattere an Bord gegangen waren und das    Schiff erst in Konstantinopel wieder verlassen hatten, denn besser entsprechen? Und auch ihrem Vater, dessen Beruf es gewesen war, wieder und wieder zwischen dem Boot und dem Ufer hin- und herzuspringen? Leonora bemerkte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.
    Du Idiotin, du hast ihn doch gar nicht gekannt.
    Doch als sie schließlich mit Alessandro zusammen mitten in den Reihen der exakt ausgerichteten Gräber auf einem der Grabsteine den Namen ihres Vaters las, empfand sie nur eine innere Leere, die keine Tränen mehr hervorbrachte. Sie nahm kaum zur Kenntnis, dass Alessandro murmelte, er wolle das Grab seiner Großmutter besuchen, und sie verließ. Wie gebannt starrte sie auf die Grabinschrift: Bruno Giovanni Battista Manin, 1949-1972.
    Er war erst dreiundzwanzig, als er starb.
    Leonora wusste nicht, was sie tun sollte. Hier lagen die sterblichen Überreste eines Mannes von dreiundzwanzig Jahren, eines Mannes, den sie nie gekannt hatte und der zehn Jahre jünger war als sie heute.
    Und so jung wird er bis in alle Ewigkeit bleiben.
    Schließlich legte sie ihr Mitbringsel - einen kleinen Strauß weiße Tausendschönchen - auf den Grabstein. Alessandro hatte ihr geraten, ihre Lieblingsblumen für ihn zu kaufen. Dann setzte sie sich auf den Rasen, las noch einmal die eingemeißelten Worte und sagte einfach: «Hallo, ich bin Leonora.»
    Alessandro hatte die Ruhestätte seiner Großmutter im Nu gefunden und legte seinen Rosenstrauß vor ihrem Grabstein ab. Er hatte nicht mehr viele Erinnerungen an sie, doch eine stand ihm noch deutlich vor Augen. Von dem Tag an, als sein Großvater starb, hatte sie nur noch schwarze Kleidung getragen. Außerdem erinnerte    er sich noch an ihre tagliatelle con burro e salvia, die in keiner Trattoria besser zubereitet wurden.
    Er empfand keine Trauer, sondern nur Liebe, als er sich jetzt bückte, um einige trockene Zweige von ihrem Grab zu entfernen und mit dem Daumennagel ein paar Flechten vom Grabstein zu kratzen. Dann richtete er sich wieder auf und hielt nach Leonora Ausschau. Er erspähte ihr blondes Haar sofort. Mit

Weitere Kostenlose Bücher