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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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verkleiden. Er hat sich alte Sachen besorgt, hat es geübt, sich unkenntlich zu machen. An Karneval waren Scarmiglia und ich die Einzigen ohne Maske. Jetzt wird der Genosse Flug ein Kostüm anziehen, sich mit Ruß die Oberlippe schwärzen und wie ein Großstadtzorro durch Palermo streifen.
    Er will, dass wir morgen nach der Schule zu ihm kommen, sagt Strahl. In den Keller. Er hat die neue Aktion ausgearbeitet, er will sie durchführen, bevor das Jahr zu Ende geht. Am nächsten Tag sind wir um zwei Uhr nachmittags im Viale delle Magnolie.
    Flug ist eine Skulptur aus Kohle. Ein bizarres Stück Lignit, aus einer Mine gefördert, mager und gefleckt, der Körper gestählt durch den Aufenthalt im Freien. In kürzester Zeit ist er gealtert, und jetzt, in der strengen Klarheit seiner Gesichtszüge, offenbart er eine Erkenntnisfähigkeit, die Strahl und mir noch fremd ist. Sein Metamorphose ist abgeschlossen: In seinen Augen leuchtet eine Kraft, die brennen kann.
    Im Keller hat er Veränderungen vorgenommen. Die Eierkartons sind noch da, doch statt der kleinen Zelle gibt es ein Lager mit einer Campingliege aus blauem Metall. Die Decke ist die von Morana; ich erkenne sofort den dumpfen Geruch seines Körpers und den der Spiritusflecken auf dem Stoff. Es gibt noch Lebensmittelbestände, und Strahl bekommt den Auftrag, sie aufzufüllen; Pappkartons mit massenhaft Kleidung darin. Unter einem der Haufen ist ein Fotoapparat; halb verborgen zwischen den Kartons und der Wand liegen Holzstöcke. Und dann ein paar Bücher, viele Hefte, Kugelschreiber und Bleistifte. Aus einem Heft schaut ein Stück von einem Polaroidfoto heraus: Ich erkenne Morana.
    Wir begrüßen uns mit Handschlag, und für einen Moment sind unsere Köpfe, auf denen jetzt wieder Haare wachsen, erneut Schädel. Dann setzt sich Flug auf den Rand der Liege, Strahl nicht weit davon auf einen geschlossenen Karton; ich kauere mich auf die Fersen, meine Schultern an die Wand gelehnt. In der Luft das unaufhörliche leise Summen von Fliegen.
    Flug sagt uns, dass es ihm gut geht. Er weiß, dass sie ihn suchen. Man wird eine Verbindung zwischen seinem Verschwinden und dem Tod Moranas vermuten. Sie werden zwei Hypothesen in Betracht ziehen: Eine hält ihn genauso für ein Opfer wie Morana; bei der anderen ist der zweite Verschwundene verantwortlich für den Tod des ersten oder auf irgendeine Weise in die Sache verwickelt. Flug weiß nicht, ob der Ermittler in der Lage ist, sich vorzustellen, dass er im Untergrund lebt, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er bald auf den Gedanken kommt. Flug sagt uns auch, dass er lange über den nächsten Schritt nachgedacht hat.
Darüber, wie man vor allem aus der psychologischen Erfahrung der Entführung Moranas Nutzen zieht.
    »Unsere nächste Aktion«, erklärt er, »wird alles, was wir bisher durchgeführt haben, perfektionieren. Und es noch verschärfen.«
    Er hält inne, sieht uns prüfend an. Er will wissen, ob wir auf der Höhe seiner Worte sind.
    »Das bedeutet«, sagt er und spricht langsam, »dass wir nach dieser Aktion vom ganzen Land wahrgenommen werden.«
    Wieder eine Pause, in der er auskundschaftet, bis wohin wir bereit sind zu gehen.
    »Unsichtbar«, sagt er und spricht abgehackt in einzelnen Silben. »Radikal und perfekt.«
    Strahls Augen leuchten. Um mich von meiner Erregung abzulenken, beobachte ich die seine. Riesig und kindlich ist sie, eine Erweckung, kleine Wellen, die über seinen Körper, durch seinen Geist laufen.
    »In diesen Tagen«, fährt Flug fort, »habe ich mit dem Beschatten begonnen. Dann musste ich damit aufhören, es wurde gefährlich. Ihr müsst weitermachen.«
    Er wendet sich an mich.
    »Du musst damit weitermachen, Genosse Nimbus«, sagt er und lächelt.
    Wenn ich in den letzten anderthalb Monaten bei mehr als einer Gelegenheit das Gefühl hatte, an den Rand gedrängt und mit sekundären Aufgaben abgespeist zu werden, so empfinde ich in diesem Moment, in Flugs Blick, der mich annimmt, in seinem Lächeln, das mich anerkennt, kein Zögern mehr und kehre ins Zentrum unseres gemeinsamen Denkens zurück.
    »Die Person, die wir entführen werden«, sagt Flug, »ist Wimbow.«
    Wimbow, denke ich. Ich denke nichts. Ich sehe Schwarz und Rot. Wimbows Körper.
    »Aber warum?«, fragt Strahl. »Warum sie?«
    Er steht auf, seine Stimme klingt wie abgeschürft. »Sie hat uns nichts getan«, sagt er. »Sie kann keine Zielperson sein. Sie ist keine Zielperson.«

    Er unterbricht sich, möchte ein paar Schritte gehen,

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