Die Glasfresser
einem Fuß ohne Kralle, eine dicke Frau mit Schürze und dem Gesicht einer Ameise, einen Pferdekopf mit einem roten Auge und schließlich ein braunes Insekt mit sechs Beinchen und Stachel.
Jetzt knetet er einen blauen Alten mit weißem Bart; während ich schlafe, schnüffelt der Lappen in meinem Kopf herum.
»Ich will sie zu Weihnachten verschenken«, sagt er.
»An wen?«
»An meine Vettern.«
Hinter ihm liegt ein halb aufgegessenes Brot. Aber vielleicht ist das auch aus Knete.
»Was passiert jetzt?«, fragt er.
Ich setze mich neben ihn auf die Couch.
»Ich weiß es nicht«, sage ich. »Wir machen weiter.«
»Und was gibt es, wenn ihr weitermacht?«
»Weitere Leichen.«
»Sind die Leichen wichtig?«
»Die Leichen verkörpern etwas. Sie stellen etwas dar.«
»Leichen sind Leichen«, sagt er.
»Es sind Symbole.«
»Wofür ist Moranas Leiche ein Symbol?«
»Für eine Entdeckung.«
Ich mache eine Pause. Nicht absichtlich, nur um den Ausdruck zu finden, der den Sinn genauer wiedergibt. Ich finde ihn, einen Augenblick schäme ich mich. Dann sage ich es.
»Es war wunderschön.«
Der Lappen hat den Alten mit dem Bart fertig und legt ihn neben die anderen. Aus den Knetrollen, die er vor sich auf Zeitungspapier ausgebreitet hat, nimmt er Grün und Rot.
»Was?«, fragt er mich ruhig.
»Schuldig zu sein.«
»Ihr habt ein solches Bedürfnis, schuldig zu sein, dass ihr denkt, alle sind es«, sagt er und sieht mich an.
»Was meinst du damit?«
»Für euch war Morana schuldig.«
»Das musste er sein.«
»Schuldig zu sein ist ansteckend«, sagt er. »Vielleicht ist es eine Krankheit.«
»Ja. Es ist eine Infektion.«
»Und ihr macht es euch zur Aufgabe, sie zu verbreiten.«
Mit dem Grün und dem Rot und dem noch hinzugefügten Blau
hat er einen Baum geknetet. Er korrigiert die Krümmung eines Asts, sieht dann seine mit bunten Krümeln bedeckten Handflächen an.
»Weißt du, wann der Schmerz kommt?«, fragt er.
Da ist sie, sage ich mir, das ist die Frage. Die einzig wirkliche Frage.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich.
»Erwartest du ihn?«
Ich sage nichts. Er gibt den Wurzeln eine perfekte Form und hält mir den Baum hin, stützt ihn mit zwei Fingern.
»Hier«, sagt er.
Ich nehme ihn, stelle ihn mir auf die Handfläche.
»Ich schenke ihn dir«, sagt er.
»Auch wenn wir keine Vettern sind?«
»Ja.«
»Auch wenn noch nicht Weihnachten ist?«
»Es ist zum Geburtstag.«
»Der ist in einem Monat«, sage ich.
»Macht nichts.«
Er legt die anderen Figuren so auf die Zeitung, dass sie nicht aneinanderkleben. Er steht auf, hält die Zeitung an den Rändern gestrafft und hebt sie hoch, eine Bahre aus Papier, entfernt sich dann mit vorsichtigen Schritten.
Ich bleibe, der Fernseher ist noch eingeschaltet, da sind die Geräusche der Schnur, die kocht, da ist der Baum, der seine Wurzeln in meine Hand schlägt.
Einige Tage verstreichen. Ich schlafe wenig, nehme ab. Wenn ich zur Schule gehe, betrachte ich die matte Welt. Ich reibe mir die Augen, sie bleibt matt. Es kommt der Samstag, und in der letzten Stunde sagt uns der Genosse Flug, dass wir reden müssen. Um vier Uhr nachmittags sind wir auf der Lichtung.
»Sie haben mich vorgeladen«, sagt er. »Gestern Nachmittag, mit meinen Eltern. Sie haben mir viele Fragen gestellt. Der Direktor und zwei von der Polizei waren da. Sie haben mich nach den
Erhängten gefragt. Nach den Puppen und den Kleidern. Sie haben nicht durchblicken lassen, was genau sie wissen, und gesagt, dass ich wiederkommen muss.«
Der Genosse Strahl hat den Blick auf die Stoppeln gerichtet. Ein paar Ameisen klettern an den fasrigen Stängeln hoch. Er schüttelt sie mit der Schuhspitze ab, und sie verschwinden.
»Vielleicht ist es wegen des Chemikerkittels vom Freund deines Bruders«, sagt er.
»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagt Flug.
»Es ist deshalb«, wiederholt Strahl.
Auch ich betrachte das Muster der Stoppeln, spüre etwas, das zerbricht. Aber ich fühle mich nicht schlecht. Und auch in Flugs Stimme liegt keine Angst, sondern Konzentration. Das Bewusstsein, dass ein Teil der Verbindungen unvermeidlich zerbrechen wird, doch dass dies nicht dem Sinn des Geschehens widerspricht. Im Gegenteil. Es entwickelt und festigt ihn.
»Ich muss weggehen«, sagt Flug.
Das musste er sagen, denke ich.
»Was willst du tun?«, fragt Strahl.
»Ich gehe in den Untergrund. Es ist der richtige Moment. Ich hatte es schon eine Weile geplant, ich bin vorbereitet.«
Strahl und ich
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