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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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sich bewegen, es ist kein Platz dafür. Der Genosse Flug hat sich nicht gerührt. Er hat nur seine Darlegung unterbrochen.
    »Niemand hat uns irgendetwas getan«, fährt er dann fort. »Niemand hat je direkt gegen uns gehandelt. Aber wenn wir dieses Kriterium gelten lassen, hätten wir von Anfang an nichts tun dürfen.«
    »Nein, Genosse«, sagt Strahl, »so ist es nicht. Wir haben jedes Mal Ziele ausgesucht, die auf die eine oder andere Weise unsere Gegner waren.«
    »Morana war nicht unser Gegner«, sagt Flug.
    »Doch, Morana war nötig«, antwortet Strahl. »Aus pädagogischen Gründen. Er ist unser Sündenfall gewesen.«
    »Im Kampf, Genosse«, sagt Flug, »gibt es einen Sündenfall nach dem anderen.«
    Gefühllos durchdringen seine Worte die Luft.
    »Nicht einmal bei den Roten Brigaden war die Zielperson je eine Frau«, fährt Strahl fort. »Nicht einmal bei ihnen.«
    Er bewegt die Hände, ist beharrlich und nervös zugleich, stapelt Steine aus Luft aufeinander, um sich eine Logik zu errichten, die eine Barriere bilden soll. Ich dagegen kauere weiter mit dem Nacken an der Wand, wie um meinen Nimbus hineinzugraben. Wie um mit meinem Rücken als Damm den Zusammenbruch aufzuhalten.
    »Der Einwand mit dem Geschlecht ist haltlos«, erklärt Flug ruhig.
    »Wieso ist er haltlos?«, fragt Strahl. »Sie ist eine Frau. Ein Mädchen.«
    »Sie ist auch stumm«, sagt Flug. »Sie ist Mestizin. Sie ist schön. Sie ist alles, was sie sein muss.«
    Strahl zögert. Er ist aufgebracht, doch ihm wird klar, dass er in eine Sackgasse geraten ist. Beim Genossen Strahl ist Logik ein Wagnis.
    »Was haben wir davon, ihr wehzutun?«, fragt er.
    »Ich habe nicht gesagt, dass wir ihr wehtun werden.«

    »Was haben wir davon, sie zu entführen?«, präzisiert Strahl die Frage.
    Der Genosse Flug reibt sich den Kopf, an einem präzisen Punkt, heftig; dann ist er wieder konzentriert.
    »Wir können sie studieren«, sagt er. »Verstehen, wer sie ist.«
    Das Gegenteil dessen, was ich mir wünsche, denke ich. Ich hatte das kreolische Mädchen, und das genügte mir. Ich wollte nur die reine Erscheinung genießen, ohne mich mit ihrer Geschichte zu beschmutzen. Seit sie Wimbow geworden ist, habe ich mit etwas zu tun, das ich nicht bändigen kann. Der Genosse Flug dagegen sucht das Verstehen. Das Erkennen. Er will sie in den Bernstein unserer Zelle locken. Sie bewegungsunfähig, ein Fossil aus ihr machen.
    »Aber das haben wir schon mit Morana getan«, widerspricht Strahl. »Wir haben ihn eigens dafür entführt. Es hat keinen Sinn, die gleiche Sache zu wiederholen.«
    »Es ist nicht die gleiche Sache«, sagt Flug. »Wimbow ist nicht Morana. Morana war allein. Vollkommen allein. Wimbow nicht. Wimbow ist eine Verbindung.«
    Ich denke an die elektrostatischen Kräfte, welche die Atome in einem Molekül zusammenhalten. An alle unsichtbaren Kräfte, die den Dingen Kohäsion verleihen. Das ist Wimbow. Unsichtbare Kraft. Verbindung.
    »Ich verstehe dich nicht, Genosse Flug«, sagt Strahl unter ruckartigen Bewegungen.
    »Wimbow erzeugt Verbindungen«, erklärt Flug. »Von ganz allein, nur durch ihre Existenz. Morana war das Gegenteil, abstoßend. Mit ihm war alles ganz einfach, da gab es nichts zu zerstören. Wimbow dagegen zieht an. Sie verbindet .«
    Während Flug sich nun sanft den Hals massiert, wendet Strahl sich mir zu. Er möchte, dass ich eingreife, dass ich mich ebenfalls widersetze. Doch ich rühre mich nicht, sage nichts. Denn was mich durcheinanderbringt, mehr noch als die Absicht, eine Aktion gegen Wimbow zu planen, mehr noch als das, was der Genosse Flug sagt, ist die Entdeckung, dass die anderen ihre
Existenz wahrnehmen. Ihren Namen und ihr Leben. Zu hören, dass sie auch außerhalb meiner Vorstellung existieren kann und existiert.
    »Wir, Genossen«, fängt Flug plötzlich wieder an, »müssen ohne Bindungen auskommen. Wir müssen lernen zu verzichten.«
    Strahl schweigt. Er ist erschöpft. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er noch die Kraft, die Luft mit entschiedenen und ungeduldigen Bewegungen zu zerschneiden: Jetzt hält er den Kopf gesenkt.
    »Warum?«, fragt er, doch es ist eine Frage ohne Hoffnung.
    »Weil Mädchen einen zum Weinen bringen«, sagt Flug und wendet sich mir zu.
    Ich hebe den Blick, fixiere ihn und erkenne, wieder einmal, was unter dem liegt, was er sagt. Die Wut und die Provokation, die in ihm erstarrt sind.
    Minuten vergehen.
    Strahl hat sich wieder hingesetzt, die Schläfen zwischen den Fäusten; Flug fährt sich mit

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