Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
Vom Netzwerk:
sehen ihn an. Den Genossen Flug. Den Ideologen. Den Mörderjungen. Die Geometrie und die Besessenheit. Die Auslöschung des Menschlichen. Die Umwandlung jedes Zentimeters Körper in Disziplin. Und also jetzt: die Entmaterialisierung des Körpers. Der Untergrund als letzte Lebensform.
    »Wann?«, fragt Strahl noch.
    »Heute. Jetzt. Ich weiß, wo ich hingehe.«
    Wir betrachten ihn, spüren die Verlockung, beneiden ihn, möchten es machen wie er. In den Untergrund gehen, in das durchlässige Wort, hinter dem der Körper verschwindet.
    »Wie verständigen wir uns?«, frage ich.
    »Macht euch keine Sorgen, ich melde mich bei euch. Ich werde da sein.«

    »Wir müssen weitere Aktionen durchführen«, sagt Strahl.
    »Natürlich müssen wir das. Jetzt werden wir uns ein höheres Ziel stecken.«
    Auf der Lichtung wird es heller. Das Licht kommt von oben, fällt in den senkrechten Tunnel der Pflanzen, dringt zu den Stoppeln vor, strömt unter die Erde.
    Wir stehen auf: Bald werden wir uns verabschieden, werden kleinste Details verabreden. Zeitpunkte, Orte. Neue Codes definieren. Wir werden die Süße und die Melancholie der Trennung spüren, das Bestürzende eines neuen Endes und eines neuen Anfangs. Dann wird jeder den Weg nach Hause nehmen oder auf den Punkt zu, wo man verschwindet, und dabei die Novembersonne wahrnehmen, wie sie vom Zement der Straße schimmert, durch Staub und Sand.

Materie
    Dezember 1978
    Im Dezember ist die Straße untergründig, die Fassaden der Häuser sind untergründig, die Eisengeländer, die Straßenlaternen, die Müllhaufen auf dem Bürgersteig. Eine ganz eigene Topografie, eine neue Vorstellung vom Raum. Auch die dichtesten Oberflächen, die mir voll und fest scheinen, verbergen in Wirklichkeit einen doppelten Boden. Geheimgänge, die das Draußen mit dem Drinnen verbinden.
    Im Klassenzimmer besehe ich mir die Tafel. Das tiefe Schwarz des Schiefers, die Materialmasse, die es verströmt. Und den Papierkorb, das Stück Wand, geschwärzt vom Feuer unseres ersten, zaghaften Anschlags; die Kerben in den Bänken, die geopolitische Karte Italiens. Das untergründige Italien. Und da ist Moranas Platz, weiter drüben: unberührt, jungfräulich. Und sein Tod. Das Leben, das den Tod ersinnt. Die Ermittlungen, die nun, zum allgemeinen Erstaunen und Bedauern, auch das Verschwinden des Genossen Flug einschließen. Das Verschwinden von Dario Scarmiglia. Die Familie im Alarmzustand, der Schulbetrieb droht zusammenzubrechen, alle werden wieder einbestellt, besonders der Genosse Strahl und ich. Beharrlich und verständnisvoll befragt. Mit einem Aktenvermerk versehen. Vage als mögliche Schlüsselfiguren zur Auflösung eines abnormen Phänomens wahrgenommen. Auch weil die Ermittlungen nach und nach ihre Richtung ändern. Man akzeptiert, dass das Böse von unten kommen kann. Von uns. Eine zunehmende Fokussierung, die mir keine Sorgen bereitet, sondern gefällt. Ich empfinde die Freude der Legitimation: in aller
Unsichtbarkeit wahrgenommen werden. Unser ursprüngliches Ziel.
    Seit Beginn des Monats stehen Weihnachtsmarktstände in der Via Mariano Stabile. Ohne Anmeldung und Genehmigung aufgestellt, Auslagen, wohin man sieht. Haufenweise schlecht gemachte Hirtenknaben, Kork für Krippen, blinkende Lichter in Form von Eicheln, geflochtene Silberbänder, die alles umranken. Kisten voller Christbaumkugeln, zum Teil zerbrochen, überall liegen kleine Scherben. Und dann die Bäume in den Töpfen, die Spitzen nach oben oder wie Waffen in Reih und Glied, der Asphalt übersät mit grünen Nadeln, buntem Kleinkram. Dort bin ich am Nachmittag und wühle in alldem herum: Hirten und andere Figuren, brennende Feuer und Seen aus Pappe, Schafe, Schweine und ein rätselhaftes Rhinozeros mit einem spitzen Horn.
    Eines Nachmittags komme ich nach Hause, und die Schnur sagt mir, dass der Genosse Strahl angerufen hat. Die Schnur sagt nicht Strahl, sie sagt auch nicht Bocca; sie sagt Massimo. Ich rufe ihn zurück, er fragt mich, ob wir uns sehen können. Wir verabreden uns für eine halbe Stunde später auf der Lichtung.
    Er ist aufgeregt. Der Genosse Flug hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Ein paar Tage lang, hat er ihm gesagt, habe er sich durchgeschlagen, auf der Straße gelebt und sich von dem Geld, das er zu Hause gestohlen hatte, zu essen gekauft, doch jetzt gehe es nicht mehr; also hat er sich bei Strahl gemeldet und ihn um die Schlüssel für den Keller gebeten, er will ihn als Basislager nutzen. Wenn er ausgeht, will er sich

Weitere Kostenlose Bücher