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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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dem Zeigefinger der einen über den Rücken der anderen Hand, folgt dem Lauf der Adern. Mit einem Mal hebt er den Kopf. Wir haben es so gut wie geschafft, gibt er mir mit seinem Blick zu verstehen. Noch eine kleine Anstrengung, noch ein bisschen Mut. Flug weiß, dass mein Schweigen nichts mit Strahls Einwänden zu tun hat. Es hat nichts mit Logik zu tun, nichts mit einer Vorstellung von Gerechtigkeit - alles Bollwerke, die bröckeln können. Für mich ist Wimbow dort, wo Euphorie und Melancholie sich mischen. Das himmlische Gesicht meiner Imagination. Der Ursprung. An die Vernichtung all dessen zu denken ist eine Art Tod. Und der Genosse Flug ist ein Erforscher des Todes. Also sieht er mich an und schweigt. Dann nickt er mir zu, und ich spiegle dieses Zeichen. Strahl fängt es auf, erhebt sich, sein Körper extrem mager. Irgendwo hat auch er die nötige Verzweiflung gefunden.
    Wir schweigen, die Fliegen um uns herum, und erst später, sehr viel später, als alles Summen verstummt ist, machen wir uns daran, den Plan zu entwerfen.

     
    In den nächsten Tagen kann ich überhaupt nicht mehr schlafen. Wie jeden Herbst beginne ich wieder ins Schwimmbad zu gehen. Der Schwimmlehrer trainiert mit mir und sagt, ich solle mich im Wasser länger machen, den Unterleib weiter unten halten - mit der Hand drückt er die Lenden hinunter -, die Schultern weiter hochheben - mit der anderen Hand drückt er sie nach oben -, zeigt mir, wie ich den Kopf neigen, beim Beinschlag abwechseln soll. Die ersten zwanzig Minuten muss ich die Unterarme auf eine Korkplatte stützen und so schwimmen, dass nur die Beine arbeiten. An dieses pflanzliche Relikt geklammert, dümple ich auf und ab, eine Bahn nach der anderen, halte den Kopf unter Wasser, suche den flüssigen Schlaf.
    Durch die Müdigkeit verändert sich meine Wahrnehmung in der Schule. Wenn ich den Kopf von der Bank hebe und mich umschaue, überkommt mich immer eine starke Ergriffenheit, ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und nach Weinen. In der Pause, allein auf den Gängen, möchte ich in die Wände beißen, in die Toiletten gehen, um die Keramik der Waschbecken zu vertilgen, das Wasser aus den Hähnen zu trinken, das ganze Wasser, bis in die Rohre hinein, jedes Klassenzimmer betreten, um die Bänke, die Schultaschen, die Bücher der Schüler zu verschlingen. Dann versuche ich mich zu beruhigen, weil ich spüre, dass ich schwanke, halte meinen Hunger zurück und weiß, dass dieser Hunger Sehnsucht nach allem ist, der Wunsch und der Schmerz zurückzukehren.
    So beginne ich Wimbow zu beschatten. Am Anfang verliere ich sie sofort. Ich mache mich daran, ihrem Namen zu folgen, und vergesse sie. Dann finde ich die nötige Konzentration wieder, und es gelingt mir, hinter ihr herzugehen. Doch die Strecken, auf denen sie allein ist, sind sehr kurz - ein paar Schritte außerhalb der Schule, auf der Piazza De Saliba verabschiedet sie sich von einer Klassenkameradin, dann wieder ein paar Schritte, sie begrüßt ihre Eltern, steigt ins Auto, fährt davon.
    Bei der Versammlung sagt mir Flug, auf dem Rand der Liege sitzend, wo sie wohnt. Im Viale Lazio, einer Straße mit weißen Häusern und kurzen Schatten. Er fordert mich auf, die Gegend
auszukundschaften, ihre Gewohnheiten herauszufinden. Ich postiere mich vor dem Hauseingang und warte. Ganze Nachmittage, nichts geschieht, ich beobachte, wo in den verschiedenen Stockwerken Licht brennt, weiß nicht, welches das richtige ist, stelle mir vor, wie sie lernt.
    Eines Nachmittags dann tritt sie aus dem Haus - ein roter Mantel, die Handschuhe schwarz, das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie geht Richtung Via Libertà, schaut sich um. Ich folge ihr, bleibe auf dem Bürgersteig gegenüber. Wo Balkone sind, verlangsamt sie ihren Schritt, bleibt stehen und schaut nach oben; ich warte, bis sie sich entfernt, überquere die Straße, schaue, wohin sie geschaut hat, sehe dunkle Klümpchen in den Ecken unter dem Stein der Balkone. Die Schwalben, die den Herbst überleben, schwirren wild über unseren Köpfen hin und her - die Flügel gebogen und spitz, der Schwanz geteilt -, zerschneiden den klaren Lichthof der Straßenlampen.
    Ich gehe zurück auf den Bürgersteig gegenüber, und in der Zwischenzeit ist Wimbow stehen geblieben. Sie tut nichts, wartet. Auch ich bleibe stehen, im Dunkeln, schlage den Kragen meiner Jacke hoch. Ich komme mir idiotisch vor. Nach ein paar Minuten erscheint ein anderes Mädchen, grüner Mantel, blondes Haar, ein klein wenig größer

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