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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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nächtlicher Bogart mit Übergewicht.
    Als wir die Via Principe di Paternò Richtung Via Libertà hinuntergehen, die Beine kraftlos vor Müdigkeit, denke ich, dass wir nicht realistisch sind. Wir sind hyperrealistisch. Wir versuchen bei der Wirklichkeit zu bleiben und übertreiben ihre Merkmale. Nicht nur wir, jetzt, nachts in Mantel und Trenchcoat, mit Perücke und Borsalino unterwegs, sind exzessiv. Die ganze Atmosphäre, unser ganzes Leben ist es. Und dann unsere Art zu sprechen: wie Stummfilmdiven. Melodramatisch, ermattet. Wir starren uns aus flammenden Augen in kalkweißen Gesichtern an, die Züge verzerrt. Wenn wir sprechen, erscheinen Zwischentitel - weiße Schrift auf schwarzem Grund, die Buchstaben mit Schnörkeln verziert. Nach jedem Satz sollten wir die Besinnung verlieren: eine Ohnmacht als Erklärung, als Abschied.
    In der Via Libertà gehen wir nach links, wieder hoch, in Richtung der Statue. Es sind keine Autos unterwegs, obwohl es Mitte
Dezember ist, kurz vor den Feiertagen. Wir wenden uns noch einmal nach links, nehmen die Treppen, die zur Piazza Edison führen. Wie setzen uns neben den arabischen Brunnen. Flug nimmt seinen Borsalino ab, legt ihn auf das Mäuerchen. Wir horchen auf den Wind, der, sich windend, auf den Grund des Brunnens stürzt und wieder herausfährt, um sich neue Kraft zu holen.
    »Genosse Nimbus«, sagt Flug und sieht nach unten, »weißt du, dass, wenn eine Biene sticht, ihr Stachel im Opfer stecken bleibt und die Biene dann stirbt?«
    Mir fällt das Buch über die Bienen ein. Dass ich es nie zu Ende gelesen habe.
    »Das wusste ich nicht«, sage ich.
    »Die Biene impft das Gift ein, ihr Körper wird zerrissen und stirbt.«
    Er konstruiert jetzt, der Genosse Flug: Im Dunkel sehe ich, wie sich die subtile Form einer seiner zahlreichen Kathedralen des Denkens abzeichnet.
    »So funktioniert das auch bei den Drohnen«, sagt er. »Sie dienen nur dazu, die Königin zu begatten. Sie lassen ihre Genitalien in ihrem Körper und sterben gleich darauf.«
    »Ja«, sage ich, »ich habe verstanden.«
    Er schaut mich an, wartet.
    »Also?«, füge ich hinzu.
    »Also sterben alle: Arbeiterinnen, Drohnen, die Königin. Die Bienen sterben alle.«
    »Und auch wir müssen unsere Art zu sterben finden«, sage ich.
    »Genau das, Genosse Nimbus.«
    »Wie machen wir das?«
    »Jeder findet seine Methode. Dafür sind wir hier. Du, der Genosse Strahl, ich.«
    Obwohl wir an der frischen Luft sind, nehme ich an ihm den dichten Geruch dessen wahr, der sich nicht richtig wäscht, das Wasser aus dem Hahn im Keller nimmt und den Körper stückweise abreibt, mit Seife, die auf der Haut kalt wird.
    »Weißt du schon, wie du sterben wirst?«, frage ich.

    »Durch einen Satz.«
    »Welchen?«
    »Den Satz, der die eine und die andere Welt trennt und vereint. Das Scharnier. Die magische Formel.«
    »Welcher Satz?«
    »Ich erkläre mich zum politischen Gefangenen.«
    Weiter weg, auf der Straße, sieht man die Lichter der ersten Autos vor dem Morgengrauen.
    »Im Code der Brigadisten«, sagt er, »gibt es eine Spitze, an der alles hängt.«
    Der falsche Bauch schaut aus seinem Trenchcoat heraus. Eine Wölbung, die nicht zu seinen mageren Händen passt. Die Grausamkeit seines Denkens birgt alles, was ich von dieser Zeit verlangen konnte.
    »Stell dir eine umgekehrte Pyramide vor«, erklärt er. »Die Spitze der Pyramide ist der Satz ›Ich erkläre mich zum politischen Gefangenen‹. Von ihm allein hängt alles ab.«
    Der Wind schüttelt seinen Hut auf dem Mäuerchen, weht ihn ein paar Zentimeter weiter.
    Das stimmt, denke ich. Von Anfang an ist es unser Traum gewesen, im bewaffneten Kampf wie Sokrates zu werden: unausweichlich besiegt, doch dabei stolz. Und in der Niederlage unbesiegbar.
    »Verstehst du?«, fährt Flug fort. »Es ist der letzte Tribut an die Worte der Militanz, der Satz, mit dem man sich von seiner beschränkten persönlichen Geschichte befreit, um in die unendliche Zeit der revolutionären Mythologie einzutreten, wo die Arbeit an der Sprache - jener der Kommuniqués, der Initiativen, der Versammlungen - nicht mehr zählt.«
    Er macht eine Pause, senkt den Kopf.
    »Nicht mehr existiert«, sagt er.
    Er bleibt noch eine Weile still, entkräftet, als wäre es unerträglich, weiter das zu verstehen, was er verstanden hat.
    »Man tritt in die Stille des Mythos ein«, fügt er dann hinzu. »Ins Sterben.«

    Jetzt, den Kopf immer noch auf die Brust geneigt, sucht er mich mit den Augen in dem dichten Halbdunkel,

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