Die Glasfresser
Aktion treten.«
»Aber auf diese Art wird Nimbus enttarnt«, wendet Strahl weiter ein. »Die Polizei wird niemals an einen Zufall glauben, sie werden herausfinden, dass es einen Plan gab und dass er Teil davon war.«
Die Blicke konzentrieren sich auf mich, der ich still bin und zuhöre. Auf meine Besonnenheit, auf meine Ruhe.
»Ja«, sagt Flug. »In der Tat muss Nimbus nach dieser Aktion in den Untergrund gehen.«
Da ist es, denke ich, ich verschwinde. Endlich verschwinde ich. Auch ich werde ein kleines Loch in einem Foto. Einer, der abwesend ist. Vielleicht fehlt.
»In Ordnung«, sage ich. »Ich habe Zeit genug, mich vorzubereiten, und außerdem ist es richtig so. Ich will nur wissen, was mit Wimbow wird. Wo und wie wir sie behüten.«
Ich bin überrascht, ein vollkommen unpassendes Wort zu benutzen. Es ist klar, dass wir niemanden behüten. Wir entführen, halten gefangen, deformieren.
»Genosse«, erklärt mir Flug mit zugleich freundlicher und angespannter Stimme, »mach dir keine Sorgen: Wir werden Wimbow hier drin behüten .«
Ich stelle mir vor, wie die kleine Zelle wieder zusammengebaut wird: mit Tür und Riegel davor. Die Decke ist schon da. Die beiden Leinen, das Wasser, die Kekse, das Zeitungspapier. Ihre Haut säubern, sie abreiben. Der ausgesetzte Körper. Das Ritual des Drucks.
»Wie können wir sicher sein«, fragt Strahl, »dass Wimbow mit niemandem über das Fest spricht? Egal, ob sie weiß, dass andere aus der Schule eingeladen sind, oder ob sie es nicht weiß, macht sie möglicherweise irgendeine Andeutung, und dann würde ja herauskommen, dass außer ihr niemand da sein wird.«
»Ja, Genosse«, sagt Flug. »Nur dass Wimbow stumm ist. Fast alle beschränken sich darauf, sie anzuschauen oder ihr Fragen zu stellen, die sie von den Lippen liest und auf die sie mit einem Nicken oder Kopfschütteln antwortet. Es stimmt, einige Klassenkameradinnen verstehen ihre Zeichen, und einige Lehrer auch. Den Lehrern wird sie nichts erzählen, mit ihnen spricht man nicht über die Einladung zu einem Fest. Was die Klassenkameradinnen angeht, ist es wichtig, Wimbow wissen zu lassen, dass die anderen es nicht erfahren sollen.«
»Du musst es ihr sagen«, fährt er fort und wendet sich dabei an mich. »Du bereitest eine Karte vor, auf der steht, dass du nur sehr wenige einlädst.«
Er macht eine Pause, lächelt.
»Diejenigen, die du am liebsten magst«, sagt er. »Das dürfte genügen.«
Bestimmt wird das genügen, sage ich mir. Denn aus der detaillierten Unstimmigkeit haben wir eine Lebensform gemacht.
Die Tage vergehen, Schlacken bei der Verarbeitung von Zeit. Alle Dinge, die nun geschehen, sind vorbereitende, auf ein bestimmtes Resultat hin ausgerichtete Zwischenschritte - wie der Komplex von Phänomenen, der abläuft, wenn in einem Bauch Zellen einen Körper erzeugen: Genauso ist es mit der Zeit, die in Vorbereitung auf das Sterben vergeht.
Ich kaufe Karten und versuche die Einladung zu schreiben. Ich mache eine Probe, sie gelingt nicht, ich streiche alles durch, gehe neue Karten kaufen. Versuche es wieder, verschreibe mich, nehme mein Naturkundebuch und verlasse das Haus. Von der Via Sciuti gelange ich in den Viale delle Alpi, den ich hinuntergehe, bis ich in den Viale Lazio einbiege. Vor dem Haus, wo Wimbow wohnt, bleibe ich stehen, auf dem Bürgersteig gegenüber, und schaue hoch. Es ist sieben Uhr abends, es ist dunkel, und von dort, wo ich bin, kann ich bei den hochgezogenen Rollläden und den offenen Vorhängen die Lichter der Weihnachtsbäume sehen, das Flackern auf der Fassade.
Ich lehne mich an das Geländer und denke, dass ich ein paar Stunden damit verbringen werde, mich abwechselnd der Chemie der Knochen und der Betrachtung der Fenster zu widmen, doch plötzlich taucht im Türrahmen etwas Rotes auf, Wimbow tritt aus dem Haus und wendet sich nach links. Ich klappe das Buch zu und folge ihr. Sie geht den Viale Lazio hinunter, langsamen Schritts. Vor den Geschäften sind noch mehr Weihnachtsbäume, eine blinkende Farbenpsychose, die von ihrem Mantel zurückstrahlt und in die Tiefe sinkt, um die unendlich kleinen Katastrophen zu illuminieren, die sich in diesem Augenblick in ihrem Körper ereignen - blaue Meiose, leuchtend rote Mitose, phosphoreszierend weiß die Ströme der Zellen, die im gelben Zytoplasma atmen und sich bewegen und die Form verändern und bei jeder Metamorphose rubinrot glänzen; und dann die beißend grünen Kämme der mitochondrialen Einstülpungen, die dunklen
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