Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
Vom Netzwerk:
du sie erst einmal weiter.«
    Ich postiere mich wieder vor ihrem Haus. Warte stundenlang, dass sie herauskommt: Sie kommt nicht heraus. Ich stehe an einem Geländer auf der anderen Straßenseite. Schaue abwechselnd auf die erleuchteten Fenster und die Abbildungen in dem Naturkundebuch, das ich mitgebracht habe. Es zeigt den Schnitt durch einen menschlichen Knochen: Kalziumminerale, Schwammsubstanz,
Lymphe, Knochenmark. Im Laufe von zwei Monaten zerfällt ein Knochen vollständig und baut sich wieder auf.
    Wimbows Knochen tief in ihrem Körper.
    Das Rückgrat heißt auch Wirbelsäule, diese hat zweiunddreißig bis fünfunddreißig Wirbel, zwischen einem Wirbel und dem nächsten befinden sich die Bandscheiben, die aus Faserknorpeln bestehen.
    Es gelingt mir nicht, die Knochen in den Körper des kreolischen Mädchens einzuschließen. Zu denken, dass sie Materie ist. Knochen, Fleisch, Gewebe, innere Organe. Wirbelsäule. Dass sie alle zwei Monate vergeht und wieder entsteht. Es gelingt mir nicht.
    Ich blättere die Seiten um, betrachte die Abbildungen, versuche es noch einmal.
    Ihre Augen sind Augäpfel. Sie befinden sich in den Augenhöhlen. Innen ist der Glaskörper, also eine gallertartige Masse; außen ist die Lederhaut, ein mattes Fasergewebe. Haare und Nägel sind aus Keratin, Keratin ist ein Protein, das Schwefel enthält. Im Ohr ist die Hörschnecke, eine knöcherne Spirale; sie enthält die Perilymphe und die Endolymphe. Das Herz besteht aus gestreiften Muskelfasern und ist umgeben vom Herzbeutel.
    Die eigene Liebe auf einen Organismus reduzieren. Oder vielleicht das Gegenteil: sie dazu erhöhen. Einen Körper lieben, der zuallererst ein Organismus ist. Ihn trotzdem lieben. Gerade deshalb: weil er auch ein Organismus ist. Eine anatomophysiologische Maschine. Der Körper, der existiert, bevor meine Vorstellung sich seiner bemächtigt. Der Körper, der die Bewegungen erzeugt, die Schönheit der Bewegungen. Der Glanz der dunklen Haut. Das leuchtende Dunkel. Der Mund, der atmet und keine Wörter sagt. Die Höhlen. Der Anus, aus dem jeden Tag Exkremente kommen. Die Vagina, von der ich nichts weiß, einen Millimeter vom Unvorstellbaren entfernt, die ich mir dennoch vorzustellen versuche und die sich vorzustellen quälend ist. Die Art, wie Himmel und Hölle sich verbinden, damit eine Existenz entsteht. Die durch die Biologie gefilterte Liebe.

    Stunden vergehen, das Buch in den Händen, die Knochen in den Händen, das kreolische Mädchen im Haus, der Gedanke an Körper, der sich in meinem Kopf ausbreitet.
     
    Dann strebt alles auf einen Fluchtpunkt zu.
    Der Plan des Genossen Flug zur Entführung von Wimbow ist so luzide irreal, dass Strahl und ich ihn anhören, ohne etwas einzuwenden, ohne auch nur eine kleine korrigierende Bemerkung einzuwerfen: Vom Unwahrscheinlichen verführt, akzeptieren wir alles.
    »Wir müssen«, sagt er, »eine ungeschützte Zone schaffen, in der wir handeln. Eine Leere.«
    Auf dem Boden des Kellers sitzend, während das elektrische Licht die Körper der Fliegen in Funken verwandelt, nicken der Genosse Strahl und ich.
    »Diese Leere«, sagt Flug und sieht mich an, »ist dein Geburtstag.«
    Mein Geburtstag, denke ich, ist in ein paar Tagen. Am 21. Dezember. Donnerstag. Der Tag nach dem Beginn der Weihnachtsferien.
    »Du wirst sie zu deinem Geburtstagsfest einladen«, erklärt Flug. »Nur sie.«
    Nur sie, denke ich, genau das geht mir seit mehr als einem Jahr im Kopf herum.
    »Aber es wird kein Fest geben«, fährt er fort. »Für uns ist es wichtig, dass Wimbow am Abend des 21. Dezember zu dir nach Hause kommt. Dass sie an der Sprechanlage klingelt, weil die Pförtnerloge schon geschlossen ist: Wir werden da sein und auf sie warten. Wir werden sie festhalten, sie daran hindern zu reagieren, und sie wegbringen. Bevor ihre Eltern kommen, um sie abzuholen, werden ungefähr drei Stunden vergehen, und wir haben alle Zeit der Welt, um zu verschwinden.«
    »Wie kann der Genosse Nimbus bei uns sein«, unterbricht Strahl, »wenn Wimbow an der Sprechanlage klingelt, um sich öffnen zu lassen, und es gar kein Fest gibt? Seine Eltern dürfen nicht an die Sprechanlage gehen, das muss unbedingt er sein.«
    »Tatsächlich wird Nimbus in der Wohnung warten, bis Wimbow sich unten meldet. Er antwortet ihr, macht auf, sagt seinen Eltern, dass Freunde vorbeigekommen seien, verlässt die Wohnung, läuft die drei Stockwerke hinunter, die ihn von der Portiersloge trennen, und dann werden wir alle drei gemeinsam in

Weitere Kostenlose Bücher