Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
Vom Netzwerk:
Körnchen der Ribosomen, die blauen Kerne, die sich bei der Zellteilung vermehren: pyrotechnischer Metabolismus, das Unsichtbare, das sichtbar wird.
    Nachdem sie rechts eingebogen und weitere fünfzig Meter gegangen ist, bleibt Wimbow bei einem Blumenhändler stehen. Es ist einer von denen, die draußen einen Stand mit Vasen auf einem gestaffelten grünen Metallgestell haben, ein Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Wimbow besieht sich die Blumen, beugt sich vor und schickt sich an, eine am Stiel herauszunehmen. Der Junge sagt in Dialekt, dass sie das nicht tun soll, und sie nimmt sie trotzdem. Die Blume ist veilchenfarben und orange, die Blütenblätter fasrig. Der Junge weist sie noch einmal zurecht und gibt ihr ein Zeichen, sie zurückzustellen. Da greift Wimbow mit Daumen und Zeigefinger eine Flocke aus der Luft, führt dann die Hand zum Kinn und beschreibt eine kleine Spirale; schließlich zeigt sie auf die Blume und streicht sich sachte, ernst über die Wange.
    Der Junge ruft etwas. Ich glaube, aus seinem Dialektgewirr das Wort stumm herauszuhören. Er fragt sie danach. Wimbow macht erneut die Geste mit dem In-die-Luft-Greifen und der Spirale und nimmt Geld aus einer Börse. Misstrauisch, nur daran interessiert,
die geschäftliche Seite zu klären, nähert er sich und nimmt drei Münzen aus ihrer ausgestreckten Hand; dann zieht er Alufolie aus einer Schublade und umwickelt den Stiel der Blume damit. Die Blume in der Faust wie ein Pflanzenzepter, geht das kreolische Mädchen an mir vorbei und bemerkt mich nicht. Ich warte, dass sie sich entfernt, und sehe jetzt, da ich sie verfolge, wie sich das Licht in ihr formt, in Knospen, die mit aller Macht aufbrechen, manche kugelförmig, andere strahlenförmig, noch andere kelchförmig glockenförmig fächerförmig, und dann in Trauben Aufblühendes, das sich im Rhythmus des Atems zusammenzieht und ausdehnt, Korollen von Glockenblumen, die für einen Augenblick weiß auflodern und zu Margeriten und Löwenmäulchen werden, Mimosen und Hyazinthen, Malven und wucherndem Hibiskus, das wilde Blühen des Lebens in ihrem Körper.
    Ich sehe, wie sie durch das Tor das Haus betritt und verschwindet, beziehe wieder meinen Posten auf dem Bürgersteig gegenüber, sehe hoch, und nach dreißig Sekunden geht im ersten Stock ein Licht an, dann noch eins, ein Teil eines Wohnzimmers ist zu sehen, die Wände in einem dunklen Gelb, man weiß nicht, ist es so gestrichen, oder sieht es nur in diesem Licht so aus. Ein roter Lampenschirm, ein Bücherregal aus braunem Holz, ein zweiter Lampenschirm in Grün.
    Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, das genügt nicht, ich klettere auf das Mäuerchen und halte mich am Geländer fest; die Leute gehen an mir vorbei, werfen mir schiefe Blicke zu. Ich sehe - oder meine zu sehen: den Anfang eines Flurs, eine weiße Küche, die Fliesen mit einem Dekor aus kleinen blauen Segeln; und dann, wenn ich mich strecke und winde: ihr Zimmer mit dem Bett, einem Kleiderschrank und einer Ecke für Spiele; die Blume in einer kleinen durchsichtigen Vase auf der hellen Schreibtischplatte.
    An das Geländer geklammert, suche ich hinter dem Fenster ihr Leben, die Form, empfinde Stolz und Schmerz über ihren Körper, für diesen Körper, der heute Stille, Tumult und Blüte ist, sich aber mit der Zeit verändern wird, die Zellen werden unwirtlich werden, das Gewebe mitleidslos; auch dann werde ich ihn mir noch
vorstellen können, ich werde ihn nicht verlassen, und ich werde ihn immer noch zu lieben wissen; denn es ist wunderschön, das langsame Entkörpern eines Körpers zu lieben.
     
    Am Abend sage ich der Schnur und dem Stein, dass ich bei einem Freund schlafe. Ich bin entschieden, doch kann sie auch beruhigen, sie versuchen mich nicht aufzuhalten. Dann gehe ich zu Flug.
    Es ist eine kleine Gewohnheit geworden: der Phantomschüler, der bei seinem Meisterphantom in die Lehre geht. Wir warten, bis es Nacht wird, und bereiten uns auf unseren Ausgang vor. Während Flug mir den Rücken zuwendet und in den Kleidern wühlt, mache ich einen Arm nach dem Heft mit dem Polaroidfoto von Morana lang, ziehe es zwischen den Seiten hervor und stecke es mir in die Tasche.
    Ich beschließe, mich auch zu verkleiden. Eine schwarze Perücke mit wirrem Haar, und statt meiner Jacke ein grau-schwarzer Mantel mit Fischgrätenmuster. Flug schiebt sich ein kleines Kissen unter den Pullover, damit er dicker aussieht, zieht einen Trenchcoat an und setzt einen Borsalino auf: ein

Weitere Kostenlose Bücher