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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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mit dem Kopf unter dem Arm unterwegs sind. Er hat also irgendwo unter dem Hemd eine Narbe, in seinem Leben hat es Schmerzen gegeben, die Vorahnung des Todes, aber aus alledem hat er nichts zu lernen vermocht, da ist nur dieses eigentümliche verrückte Herumlaufen. Oder in dem Glas ist ein winzig kleines Neugeborenes, der Sohn, der mir fehlt, zusammengekauert an den vom Atem beschlagenen Glaswänden, die Luft, die sich jede Sekunde mehr verbraucht, und ich muss mich beeilen, um ihn zu befreien, verhindern, dass der kleine Mann einen Platz findet, ihn zu verstecken.
    Beschatten, denke ich, ist dies: Vervielfachen von Hypothesen, Vermehren von Vermutungen. Sich über das Leben irgendeiner
Person beugen, daran schnüffeln, seinen Schrecken betrachten. Sich durcheinanderbringen lassen.
    Der kleine Mann bleibt in der Via Cavour stehen, vor einem Jagd- und Angelsportgeschäft. Nebeneinander besehen wir uns im Schaufenster die krummen Beinchen der Allzweckmesser. Der Atem bildet Flecken auf dem Glas. Ich drehe mich zur Seite, sehe ihn an, er tut das Gleiche und rekapituliert in einem Augenblick die vielen Male, die er mich während der letzten Stunde gesehen hat. Bevor er begreift, stürze ich mich auf ihn, versetze ihm einen heftigen Stoß, er wankt nach hinten, klammert sich an mich, doch es gelingt mir, ihn abzuschütteln, ihm das Glas zu entreißen und in Richtung Via Ruggiero Settimo und dann zum Piazzale Ungheria zu rennen. Ich bleibe erst stehen, als ich unter dem Hochhaus von INA Assitalia bin. Ich reiße die Kordel und den Stoff auf, tu mir weh, eine rote Linie in der Handfläche, wickle das Glas aus, und es gleitet mir aus der Hand, fällt, schlägt auf, zerspringt, und aus seinem Inneren, wie die Asche eines Toten oder ein Gott, der sich befreit, kommen blutig rote Rosenknospen heraus, die sich auf der Straße verteilen, und ich schaue mir die rote Linie in meiner Hand an, die Hand, die blutig wird - wie bei der Frau in dem Film, wie bei der Schnur -, ich schließe und ich öffne sie, und sie tut mir weh.
    Eine der Knospen ist in eine Pfütze gefallen. Das Wasser steht, ist voller Motoröl. Ich bücke mich, ergreife sie, stecke die Nase in das Rund der Blütenblätter und nehme einen frischen und alkoholischen Duft wahr, nach pflanzlichem Kohlenwasserstoff. Während ich schnüffele, packt mich jemand am Kragen und stößt mich herum, die Knospe rutscht mir aus der Hand und fällt wieder in die Pfütze. Da ist ein junger, aufgebrachter Carabiniere mit geröteten Augen, den weißen Schulterriemen über dem blauen Hemd, hinter ihm der kleine Mann und andere Leute. Der Carabiniere zerrt und rüttelt weiter an mir. Er hält mich für einen Dialektjungen, für einen Straßenräuber. Dass ich so kurze Haar habe, unterstreicht noch meine Verruchtheit, denn so kurze Haare bedeuten Krankheit, Missbrauch, Lobotomie. Also versuche ich zu sprechen,
ihn mein Italienisch hören zu lassen, doch er schüttelt mich weiter, und die Worte kommen heraus wie einzelne Brocken. Der fassungslose kleine Mann sucht auf allen vieren seine Knospen zusammen. Ich möchte ihn fragen, warum er sie, eingeschlossen in einem Glas, herumträgt, ob es darum geht, eine Liebe zu feiern oder einen Toten zu ehren, doch ich weiß, dass ich es mir in diesem Moment nicht erlauben kann, und deshalb gebe ich einer Knospe, als sie zwischen meinen Füßen landet, einen kleinen Tritt, um sie näher zu ihm hinzuschieben, doch der Carabiniere bemerkt es, missversteht es, versetzt mir eine Ohrfeige und sagt zu mir: Stronzo, das Wort mit dem Brummen, die schwarze Hornisse. Ich beschließe zu schweigen und lasse mich wegschleppen wie Pinocchio von den Gendarmen, doch während der Carabiniere mich schüttelt, mich umdreht und zu mir sagt: »Da rüber«, habe ich noch die Zeit, den kleinen Exkrementen-Mann zu sehen, der die Knospen aufsammelt; eine ist in einer Pfütze gelandet, es ist nicht die von vorhin, sondern eine andere in der Form eines Pferdekopfs, die Knospe ist das Auge des Pferds, es sieht mir nach, wie ich mich entferne.
    In der Kaserne der Carabinieri verarzten sie meine Hand, dann kommen der Stein und die Schnur. Sie sind erschrocken, verstehen nicht. Es wird ihnen alles erklärt, sie entschuldigen sich, wissen nicht, was sie sagen sollen. Es ist ja auch keine Kleinigkeit, was ich gemacht habe, eine Rüge und eine Bestrafung reichen da nicht aus. Diesmal habe ich etwas Schlimmeres getan, ich bin wegen Raubüberfalls festgenommen worden, das ist etwas,

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