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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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den Bösen zu unterscheiden?«, fragt sie.
    »Eine Lebensform, die uns sagt, wer wir sind und wer wir gewesen sind«, sage ich.
    »Wer ihr sein werdet«, fügt sie hinzu.
    Jetzt schweigt die Pfütze in Form eines Pferdekopfs. Sie hat erreicht, was sie wollte.
    »Ich konnte die Sprache nicht mehr aushalten«, sage ich.
    »Und Militanz«, sagt sie, »ist die Lösung.«
    Ich antworte nicht, ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
    »So verzichtest du auf die Lust, Nimbus.«
    Ich senke den Kopf.
    »So verzichte ich auf den Schmerz«, sage ich.
    Die Ränder der Pfütze beginnen zu zittern. Das Wasser kräuselt sich, fließt auseinander, breitet sich aus, bis es die Form verliert; verdunstet und verschwindet.
    Ich schalte den Fernseher aus, bleibe vor dem schwarzen Bildschirm stehen. Ich höre ein Rascheln, neben mir steht der Lappen. Mit verschlafenen Augen schaut er den Bildschirm an, dann mich, dann wieder den Bildschirm, geht näher heran und legt ein Ohr darauf, besieht ihn sich erneut, schnüffelt daran, legt noch einmal das Ohr aufs Glas, gefolgt von einem abermaligen konzentrierten Schnüffeln. Schließlich macht er einen Schritt nach hinten und ist auf gleicher Höhe mit mir: Wir fixieren den ausgeschalteten Fernseher, unsere grauschwarzen Umrisse zeichnen sich im Widerschein ab.

Feuer
    Oktober 1978
    Als ich von meiner Quasifestnahme berichte, stellt der Genosse Flug mir eine Frage.
    »Hast du dich nicht zum politischen Gefangenen erklärt?«
    »Nein.«
    »Das hättest du tun sollen. Du bist bei einer Aktion festgenommen worden.«
    »Um ehrlich zu sein«, greift Genosse Strahl ein, »war es ein Training.«
    »Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Training für eine Aktion und den Aktionen selbst«, entgegnet Flug. »Wir sind immer Aktivisten, wir sind immer im Kampf.«
    »Auch wenn wir schlafen?«, fragt Strahl.
    Flug blickt ihn streng an, um herauszufinden, ob in der Frage Ironie liegt - unser Schreckgespenst - oder ob sie in gutem Glauben gestellt worden ist, in einem verzeihlichen Wiederaufflackern von Naivität.
    »Ja, Genosse, auch wenn wir schlafen.«
    Ich weiß nicht, wovon er redet. Wir sind immer im Kampf, sagt er. Aber ich verstehe nicht, gegen wen. Und wer kämpft gegen uns? Ebenso wie Flug spüre ich das Bedürfnis, verfolgt zu werden, und ich wünsche mir einen beharrlichen und liebevollen - ja, liebevollen - Feind, der mich achtet, indem er mich verfolgt. Nur dass es diesen Feind nicht gibt. Niemand verfolgt mich.
    »Hör zu«, sage ich. »Ich meine: hört zu. Wenn wir so weitermachen und uns darauf beschränken, uns Techniken anzueignen, werden wir nicht sichtbar werden. Im Augenblick bewegen wir uns
im Leeren. Wir existieren nicht. Unser Feind ist die Halluzination eines Feindes. Eine Fata Morgana. Nehmen wir zum Beispiel das Beschatten. Wir haben irgendjemanden beschattet, der nicht erwartete, beschattet zu werden, der in keiner Weise ein Ziel war.«
    »Es war ein Training«, entgegnet der Genosse Flug. »Dafür war jeder gut.«
    »Du hast gerade eben gesagt, dass Training und Aktionen das Gleiche sind«, erwidere ich.
    »Gewiss. Wir müssen immer bereit sein, für uns ist es immer ernst, auch wenn der Zusammenhang, in dem wir uns bewegen, nichts von uns weiß.«
    »Aber darum geht es ja«, beharre ich. »Niemand weiß von uns.«
    Jetzt schweigt Flug. Er merkt, dass er sich in eine Sackgasse manövriert hat.
    »Wir«, fahre ich also fort, »haben auch die Techniken gelernt, einer Überwachung auszuweichen und jemanden abzuschütteln, der hinter uns her spioniert. Und das ist paradox, denn es spioniert eben niemand hinter uns her: Der Feind ist abstrakt.«
    »Der Feind ist eine Hypothese«, sagt der Genosse Strahl.
    »Genauer gesagt«, spreche ich weiter, »er ist eine Hoffnung. Wir wünschen uns einen konkreten Feind, irgendwen oder irgendwas. Sonst bleibt er eine Abstraktion.«
    »Du hast recht«, sagt Flug, nachdem er mit gesenktem Kopf zugehört hat. »Der Feind ist eine Erfindung von uns. Wenn es ihn nicht gibt, müssen wir ihn selbst hervorbringen.«
    »Aber das ist absurd«, sagt Strahl. »Das heißt, zu beschließen, Halluzinationen zu haben, etwas zu sehen, das nicht existiert, und zu sagen, dass es existiert.«
    »Genosse Strahl«, sagt Flug, »hör zu. Der perfekte Feind existiert nicht. Der reale Feind ist immer unvollkommen: Er ist nie vollkommen böse, nie vollkommen unbesiegbar. Er hat weiche, sogar zarte Züge. Er ist verletzbar. Der einzige perfekte Feind ist der, den du

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