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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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das, wenn ich nicht elf Jahre alt wäre, auch Gefängnis bedeuten könnte. Die Carabinieri raten, mich im Auge zu behalten, ich sei in einem kritischen Alter; sie machen noch drei Minuten Polizistenpädagogik, bevor sie uns gehen lassen. Im Auto explodiert der Stein, und ich werde am Anfang blass, doch dann finde ich die Methode inakzeptabel und entziehe mich: Ich bleibe still, einer, der gleichgültig auf seine Strafe wartet.
    Während der Lappen im Wohnzimmer fernsieht und Kekse isst, machen der Stein und die Schnur in der Küche die Barbapapas:
Sie dehnen sich aus, verlängern sich, vermischen sich, nehmen die Form eines Hohen Rats an. Sie machen mir den Prozess. Ich nehme die Form von Christus an, von Kaiphas, dann erneut von Christus und wieder von Kaiphas, indem ich schizophren zwischen den Rollen hin und her wechsle; schließlich lasse ich mich auf dem Schmutzbecken nieder und versinke im familiären Elend. Nach zwei Stunden werde ich entlassen, der Hohe Rat setzt seine Arbeit hinter geschlossenen Türen fort.
    Im Wohnzimmer schaue ich zusammen mit dem Lappen fern. Als ich sehe, dass er eindöst, stehe ich auf und schalte ein anderes Programm ein. Auf dem Lokalsender Cts gibt es Vorschauen der Filme, die demnächst in Palermo anlaufen. Auf dem Bildschirm, oben und unten, der Name des Kinos, die Adresse und die Anfangszeiten; in der Mitte Bilder aus dem Film. Manche sind belanglos; dann aber sieht man ein Mädchen, ausgestreckt auf einer Wiese, ihr kurzer Rock aus Schottenstoff, ein Internatsrock, die Schenkel geschlossen, leicht geöffnet, geöffnet, wieder geschlossen. Das Aufblitzen eines Lichts zwischen den Schenkeln. Ich drehe das Lautstärkerädchen ganz herunter, versperre mit meinem Körper dem Lappen die Sicht und betrachte das für einen Augenblick bei jedem neuen schnellen Öffnen wahrnehmbare unendlich kleine Licht, ein helles Pünktchen, ein inneres Aufflammen, ein Glühwürmchen, das im schwarzen Uterus aufleuchtet. Ich kontrolliere, was hinter mir los ist, wende mich wieder dem Bildschirm zu, schiebe die Kuppe des Daumens zwischen Zeige- und Mittelfinger, nähere die Hand der Glasscheibe und mache wie einer, der nimmt, wie einer, der entstehen lässt, und aus dem Bildschirm, aus jenem weißen Photon, verloren im Dunkel zwischen den Beinen des Mädchens, kommen nacheinander kleine zerbrochene Schalen heraus, drei Ameisen, die Wurzeln, die Finger des Steins, eine Krabbe, zwei Rosenknospen, die Pfütze in Form eines Pferdekopfs.
    Die Pfütze in Form eines Pferdekopfs hat immer noch die rote Knospe als Auge.

    »Was bist du romantisch, Nimbus«, sagt sie. »Hoffnungslos.«
    Das Adverb ärgert mich, es ist übertrieben.
    »Wieso?«, frage ich.
    »Weil du Opfer der Militanz bist.«
    »Und das heißt romantisch sein?«
    »Gewiss. Romantisch sein heißt intensiv sein: Imagination bis zum Äußersten.«
    Sie hat eine flüssige Stimme; die Worte bilden sich durch eine Bewegung des Wassers, als wären dort drinnen solidere Nerven, elastische Verbindungen. Der Ton ist gewitzt und scherzhaft, verträumt.
    »Du hast recht«, sage ich. »Die Verwandlung sieht auch dies vor: intensiv sein, sich etwas vorstellen. Dir scheinen das Dummheiten zu sein, doch für mich sind es keine. Und auch nicht für den Genossen Flug und den Genossen Strahl.«
    »Und auch nicht für den Genossen Flug und den Genossen Strahl«, macht sie mich nach.
    Ich bleibe ruhig, es gibt keinen Grund zu streiten.
    »Auch für sie nicht«, sage ich.
    »Scarmiglia und Bocca gibt es nicht mehr, richtig? Sie haben jetzt andere Namen. Eine tolle Veränderung. Wichtig.«
    »Jetzt bist du auch noch ironisch«, sage ich.
    »Nein, ironisch bin ich nicht, keine Angst. Höchstens dass ich dich eine Sache fragen möchte.«
    Ich warte und schaue sie an - die Knospe ist weit geöffnet, die Blütenblätter sind vulgär entfaltet.
    »Du hattest die Sprache«, sagt sie. »Jetzt hast du das Alphastumm.«
    Ich nicke.
    »Hat sich das gelohnt?«
    »Es war notwendig.«
    »Wieso notwendig?«
    »Weil die Sprache, die von früher, die, in der es alles gab, zu viel war.«
    »Was meinst du damit?«

    »Sie hatte kein Ende.«
    »Sind die einundzwanzig Stellungen vom Alphastumm beruhigender?«
    »Das Alphastumm ist endlich.«
    »Und das ist besser?«
    »Die Sprache ist etwas Grenzenloses«, antworte ich. »Doch irgendwann beginnst du, dir zu wünschen, dass es etwas anderes gibt. Beschränkter, doch verständlicher.«
    »Etwas, das es leicht macht, zwischen den Guten und

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