Die Glasfresser
weil er sich nicht wie ein Kind verhält, obwohl er eins ist. Keine Hätscheleien, noch weniger das mutige Getue eines Kindes, das näher geht, um den Löwen anzufassen; auch nicht das erniedrigende Füttern mit der vorgekauten Kruste eines Ölbrots. Kein Versuch, Kontakt aufzunehmen: das dumpfe Monster, ganz und gar besiegt, aufgebläht in seinem Käfig; das andere, winzige Monster, ganz und gar besiegt, erniedrigt draußen im Staub. Ringsumher die Stille eines Samstagnachmittags Anfang November, die Luft ein wenig kühler, das Licht, das keine Zuflucht findet und sich nur breit und fächerförmig auf die Dinge legt.
Als ich Strahl und Flug das Heft mit all den Notizen über die Wege, Zeiten und Zusammenhänge zu lesen gebe und mündlich noch einige Details beschreibe, hören sie mir schweigend zu. Sie vergleichen meine Zeichnungen mit ihren Plänen, breiten auf den Stoppeln der Lichtung Listen und Tabellen aus, eine beeindruckende Menge hypothetischen Materials zum Zweck der besten Bedingungen für die Festnahme. So ihre Bezeichnung.
»Das größte Problem«, sagt Strahl, »ist die Verletzlichkeit.«
Ich sehe ihn an, ohne eine Ahnung zu haben, was er meint. Er hat die Art von Flug übernommen. Die formelhaften, esoterischen Phrasen, die sich nur an Eingeweihte richten, die herausfordernden und beurteilenden Blicke. Die Posen des Strategen.
»Ich meine«, fährt er fort, »dass Morana uns gerade dadurch, dass er immer verletzlich ist, in Schwierigkeiten bringt: Seine Zerbrechlichkeit hat grenzenlose Ausmaße.«
»Sie ist eine Provokation«, ergänzt Flug. »Nicht an und für sich, aber wir müssen sie als solche betrachten.«
»Was ist das«, frage ich, »ein weitere Art, den Feind stärker zu machen?«
»Meinetwegen kannst du es dafür halten«, sagt Strahl, »doch Genosse Flug hat recht: Morana provoziert uns durch seine Zerbrechlichkeit.«
Ich werde nervös, meine Hände fangen an zu jucken. Ich weiß, es ist die Müdigkeit, dieses Nicht-Schlafen.
»Aber ist Morana nicht gerade wegen seiner Zerbrechlichkeit ausgesucht worden?«, frage ich.
»Ja«, erklärt mir der Genosse Strahl, »aber unser Training darf nicht darunter leiden, dass Morana immer schwach ist. Wir brauchen Hindernisse.«
»Was für Hindernisse?«, frage ich.
»Indem wir ihn beispielweise entführen, während er mit den anderen in der Schule ist«, antwortet Flug. »Oder bei seinen Eltern. Auf der Straße oder an sonst einem belebten Ort.«
»Oder sonntags«, mischt sich Strahl ein, »wenn er mit allen Verwandten beim Mittagessen sitzt. Oder indem wir am helllichten Tag in ein öffentliches Gebäude eindringen, in das wir ihn vorher gebracht haben.«
»Oder auf allen vieren gehen«, sage ich. »Oder auf einem Bein hüpfen, einen Arm auf den Rücken gebunden. Im Zickzack.«
Flug fixiert mich.
»Das ist Ironie«, sagt er.
Ich antworte nicht, ich fühle mich ertappt. Doch da ist etwas in dem Paradoxen, in das wir eindringen, das ich nicht ganz akzeptieren kann.
»Hindernisse brauchen wir«, fährt Flug ruhig fort. »Für nachher, für die Zukunft.«
»Ich habe verstanden«, sage ich, und unterdessen denke ich an das Nachher, an die Zukunft. Ich stelle keine Fragen, wie sie die Entführung bewerkstelligen wollen, ob sie an eine Lösegeldforderung oder etwas anderes gedacht haben. Ich mag nicht fragen.
Ich hätte gern, dass sie mir etwas sagen, doch es kommt nichts, nur Informationen über den Ort, den sie als Gefängnis ausgesucht haben. Eine Art Keller, kaum mehr als eine Kammer aus Beton unter der Erde, von Strahls Vater als Lager genutzt. Der Raum befindet sich im Viale delle Magnolie, in der Nähe meiner Wohnung und der von Flug, paradoxerweise weniger nahe der Wohnung von Strahl. Vor Jahren wohnte seine Familie im Viale delle Magnolie. Dann sind sie umgezogen und haben beschlossen, ihre alte Wohnung zu vermieten; nur diesen Keller nicht, den sie als Ausweichlagerraum behalten haben.
»Er ist auf der Höhe der Garagen«, erzählt Strahl, »in einem Labyrinth von Gängen. Niemand geht je dorthin. Er ist feucht, und es gibt Platz genug, um eine kleine Zelle zu bauen. Wir können das Material benutzen, das wir draußen finden, und das Holz eines Schränkchens und einiger Regale, die dort stehen.«
Um sicher zu sein, dass sein Vater nicht dazwischenkommen kann, wird Strahl nicht nur die Schlüssel stehlen und Duplikate anfertigen lassen: Er wird sie verschwinden lassen. Es ist möglich, dass wenig benutzte Schlüssel verloren
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