Die Glasfresser
konkrete Bild unserer Zielperson, dieses unseres Sohns, den wir ergreifen und verstecken müssen. Es ist die Erfahrung, die uns fehlt: den Wehrlosen behüten, sich um Verletzlichkeit kümmern. Mein Verlangen.
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November 1978
Ich beschatte Morana. Ich erledige das allein, während Strahl und Flug an der Logistik der Entführung arbeiten. Ich habe gefragt, was für einen Sinn es habe, jemanden zu beschatten, den ich kenne und der mich kennt. Ich könnte ihn einfach fragen, wo er wohnt, oder ihn nach Hause begleiten, den Weg mit ihm gehen und es auf diese Weise herausfinden, falls es wirklich als etwas betrachtet werden muss, das man herausfinden sollte. Ich bekam die Antwort, das wäre nicht nach den Regeln.
Meine unausgesprochene Degradierung zum einfachen Arbeiter, der bei Entscheidungen nicht mitzureden hat, geht für mich in Ordnung. Ich bleibe im Atom, kreise aber als unsicheres und widerwilliges Elektron um den Kern. Außerdem hat niemand von uns etwas gesagt, das Problem ist nicht besprochen worden, und ich kann also immer noch glauben oder mir einreden, dass es sich um eine Arbeitsphase handelt, in der ich die Verantwortung für das Beschatten übernehme, während die beiden anderen Genossen auf der Grundlage meiner Berichte die Entführung und anschließende Gefangenschaft planen.
Wenn Morana die Schule verlässt, überquert er die Piazza De Saliba; an den Tagen, an denen kein Markt ist, zweihundert Meter Leere. Er geht komisch; das rechte Bein folgt dem linken nicht, sondern beschreibt einen Halbkreis nach außen. Von hinten betrachtet, hat er einen schrägen Gang, ihm zu folgen ist einfach. Außerdem sucht er immer dieselben Orte auf: die Wohnung in der Via Aurispa, einer armen und dunklen Straße mit einem Namen, der wie der einer kleinen grausamen Spinne klingt; die Straßen im Umfeld der
Via Aurispa, wenn er losgeschickt wird, um irgendetwas einzukaufen; Villa Sperlinga, wohin er häufiger geht als ich, um Leute anzusehen, besonders die Jungs auf den Wiesen, den Karussellbetreiber, doch auch die Ponys und die Hunde. Auf ein Pony steigt er nie; mit den Hunden versucht er eine melancholische Solidarität, indem er den Arm ein wenig ausstreckt, wenn sie vorbeilaufen. Doch es geschieht nichts, höchstens dass ein Hund langsamer geht, ihn ausdruckslos ansieht, sich nähert und sich dann plötzlich, ohne ihm wirklich nahe zu kommen, benommen von dem Dunstkreis, in den er eindringt, zur Seite dreht und das Weite sucht.
Am Samstag ändert Morana seinen Weg. Er geht nicht direkt in die Via Aurispa, die Straße der Spinne, zurück, sondern weiter, am Bahnhof vorbei und dann die Via Lincoln hinunter. Ich folge ihm, bis er das Tor der Villa Giulia erreicht, stehen bleibt, um es zu bewundern, das schmiedeeiserne Muster, die Kletterpflanzen.
In den Park an der Villa Giulia gehen die Palermer am Sonntagvormittag. Ich bin nur einmal dort gewesen: Mutantenfamilien zwischen den Beeten; eine Bahn, die auf einer eiförmigen Strecke fährt, die regelmäßige Bewegung der elektrischen Zugmaschine, die Kinder in die roten und blauen Wagen gepfercht; die Oleander struppig, die Palmen hoch und dünn, verschiedene Abstufungen von Grün; die weißen Statuen auf den Sockeln in einer gebückten Haltung, als wollten sie sich verstecken, und Splitt und Staub auf den Alleen.
Nachdem er das Tor hinter sich gebracht hat, streunt Morana durch den Park. Minutenlang geht er in eine Richtung, macht dann halt, kehrt um, geht erneut weiter, ein irgendwie stotterndes Gehen, schiebt sich zwischen zwei Beeten durch, setzt den Weg fort und bleibt vor einem Käfig auf einem Betonsockel stehen. Im Käfig ist ein Löwe. Zusammengekauert, alt. Den Kopf hin- und herwiegend, hechelt er nach Luft, die rötlichen Lefzen hängen herunter, die Augen sind verschleiert. Ein seniler Löwe, der seine Position nicht verändert und Morana von der anderen Seite der Stäbe ansieht.
Ich hatte von ihm gehört, hatte ihn aber nie gesehen und dachte, er sei erfunden. Doch es gibt ihn wirklich, und er stößt ein Schnauben aus, wagt nicht einmal ein Brüllen. Ab und zu schüttelt er den Kopf, dann wird sein ganzer Körper erschüttert, und er fixiert voller Groll die Leere jenseits der Hecken, der Bäume und des Tors, jenseits des ersten Bürgersteigs und der Fahrbahn der Via Lincoln, verlagert seine Wut auf das Meer.
Morana schaut ihn an, mehr nicht.
Hinter ihm, ein paar Meter entfernt, verborgen von den Blättern eines Bananenbaums, bewundere ich ihn,
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