Die Glasfresser
den Ast mit den letzten zermatschten und dunklen Trauben auf den Boden des Balkons: Die Gans verlässt das Unendliche und geht sich nähren.
Moranas Mutter ähnelt einem melancholischen Leguan. Rheumatisch, wenn man sieht, wie sie sich bewegt. Sie trägt eine karierte Bluse und einen blauen Rock, von jenem unscheinbaren Blau, das arme Röcke haben. Als ich zu ihr hingehe, um Guten
Tag zu sagen, bemerke ich, dass sie nach schlecht abgetrocknetem Geschirr riecht. Sie spricht mit ihrem Sohn in Dialekt, und ich verstehe nichts. Sie verbessert sich, versucht es auf Italienisch, sagt ihm, dass sie jetzt Zeit hat, dass sie dann gehen muss. Morana entschuldigt sich bei mir und geht zurück in die Wohnung. Ich folge ihm, während er sich einen Stuhl nimmt, ein Handtuch und eine Schere. Er stellt den Stuhl in die Mitte des Wohnzimmers, gibt seiner Mutter die Schere und legt sich das Handtuch so um, dass es Schultern und Brust bedeckt.
Ein Opfer, denke ich, Morana wie ein abstoßender Isaak, seine Mutter wie Abraham, der ihn opfert, kein Engel, um die Hand aufzuhalten, die niedersticht.
Die Leguanfrau beginnt zu schneiden, und zehn Minuten lang hört man nur das Klappern der Schere und das Klopfen des Gänseschnabels an der geschlossenen Balkontür - die Federbrust gegen das Glas gepresst, die Schwimmfüße zu einem Dreieck gerichtet, die zerkauten Trauben im Maul: ein unglaublicher Blick.
Auch Morana isst Trauben. Sie liegen in seinem Schoß, vom Handtuch bedeckt; er zieht eine Hand heraus und bringt die Traube zum Mund.
Niemand sagt irgendetwas zu mir; wohl nicht so sehr, weil man es gewohnt ist, Fremde in der Wohnung zu haben, als eher, weil sie beide gar nicht mehr wahrnehmen, dass ich da bin. Während die hellen Strähnen auf Hals und Schultern gleiten und über das unförmige Handtuch sanft zu Boden sinken, verabschiede ich mich, bedanke mich für das Wasser, werfe noch einmal einen Blick auf die Gans hinter Glas und gehe.
Wir schlagen am Samstag zu, dem ersten Tag, an dem die Kälte beschließt, ihre Hülle aus Molekülen zu verlassen: Sie durchbricht sie und beginnt zu wüten. Wir ziehen bequeme Jacken an und binden uns Schals um. Stecken Kapuzenmützen in die Taschen. Die wir nicht brauchen, da wir unmaskiert vorgehen müssen, doch sie geben uns Kraft und Mut. Die Automythologisierung braucht Ornamente. Da wir nicht die Möglichkeit haben, ein Auto
zu benutzen, ist es undenkbar, Morana irgendwo in der Stadt zu entführen und ihn in den Viale delle Magnolie zu bringen; so grotesk es auch sein mag, in den Viale delle Magnolie muss er auf eigenen Beinen kommen.
Nach der fünften Stunde folge ich ihm. Als er am Ende der Via Galilei angekommen ist, trete ich an seine Seite und grüße ihn. Ich schlage ihm vor, in die Villa Sperlinga zu gehen, nur so, um ein paar Schritte zu tun. Er sagt, dass er nicht kann, dass er nach Hause muss. Ich weiß, dass es nicht stimmt; samstags um diese Zeit geht er zum Löwen. Ich bleibe hartnäckig. Er sagt weiter Nein, doch er ist in Schwierigkeiten; eine Situation wie diese, in der es einen Widerspruch gibt, verwirrt ihn. Ich sehe mir seine frisch geschnittenen Haare an, die elektrisch aufgeladenen, auf sanfte Weise scharfen Spitzen. Ich schlage es ihm noch einmal vor, ein weiteres Nein, und an seiner Seite taucht der Genosse Strahl auf. Er sagt, der Bus kommt, wir sollen einsteigen. Morana hat Asche in den Augen, er beschleunigt den Schritt und steigt mit uns ein. Wir gehen nach hinten. Richten es so ein, dass Morana in der Ecke sitzt, Strahl und ich etwas weiter weg.
»Warum sind wir eingestiegen?«, frage ich Strahl leise. »Das war nicht vorgesehen«, füge ich hinzu.
»Ein Hindernis«, antwortet er mir, schlägt den Kragen der Jacke hoch und bindet sich den Schal fester um.
»Wir sollten zu Fuß gehen«, beharre ich. »Den Bus zu nehmen ist gefährlich.«
»Eben. Wir müssen lernen, Risiken einzugehen«, sagt er. »Und es wertet auch unsere Zielperson auf.«
Wir wenden uns Morana zu. Er sieht uns an, dann senkt er den Blick. Im Bus sind nur wenige Leute. Jedenfalls lässt sich kaum vermuten, dass eine Entführung im Gange ist, bei der das Opfer halb einwilligt und in einem öffentlichen Verkehrsmittel weggebracht wird.
Wir steigen in der Via Libertà aus, vom Viale delle Magnolie aus gesehen weiter unten; es ist ein Stück zu Fuß zurückzulegen. Morana sagt, dass er nach Hause muss, wir antworten: In Ordnung,
gleich kannst du nach Hause gehen, aber zuerst schauen wir
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