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Die Glasfresser

Titel: Die Glasfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giorgio Vasta
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gehen oder man sich nicht mehr daran erinnert, wo sie sind. Dadurch haben wir im Notfall ausreichend Zeit zu überlegen, was wir unternehmen wollen.
    Nachts kann ich noch immer nicht schlafen. Weiterhin gehe ich über den Flur, um im Sessel an der Wohnungstür Schlaf zu suchen, kehre ins Zimmer zurück, gehe über den Flur, lege mich wieder in den Sessel. Die wenigen Stunden, in denen ich Ruhe finde, drücke ich mich an ein schmales, hartes Kissen, die Beine an die Brust gezogen, den Rücken unbequem gegen die Armlehne gepresst.
    In der Schule herrscht immer noch der Alarmzustand. Nach der Verletzung des Jungen - wobei ich und die anderen so getan haben, als wüssten wir von nichts - ist die Anspannung noch weiter gestiegen. Der Polizist mit dem angewiderten Gesicht verbringt immer mehr Zeit im Rektorat, und der Reihe nach werden wir alle noch einmal einbestellt. Wenn sie uns ansehen, gelingt es ihnen nicht zu glauben, dass sich das Epizentrum hier befinden
könnte, zwischen Schulbänken, Geschichtsbüchern, Turnhallenschweiß und der in den Körpern keimenden Präadoleszenz.
    In der Klasse, während des Unterrichts, versuche ich, meine Aufmerksamkeit auf die Krümmung einer Nase, auf ein Ohr, auf irgendetwas zu richten, das meine Wahrnehmung gefangen nehmen und ihr Ruhe geben könnte. Strahl und Flug neben mir sind glaubhaft Bocca und Scarmiglia, alles in allem ausgeglichene Schüler, alles in allem anständig, auf jeden Fall aufmerksam. Mir ist gesagt worden, es genauso zu halten. Aufmerksam zu sein, zu lernen. Wenn die Leistung jetzt auch nur ein klein wenig nachlässt, kann das Verdacht erregen. Also tue ich, was ich kann, doch wenn ich ein Buch aufschlage, gelingt es mir nicht, mich zu konzentrieren. Einmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit Bleistift auf den Rand einer Seite im Mathematikbuch Selig, wer daran glaubt, wir, nein, wir glauben nicht daran schreibe; und dann, auf eine andere Seite: Tod den Toten . Sobald es mir bewusst wird, sehe ich mich um, nehme den Radiergummi und radiere es aus, doch mir scheint, dass man die eingedrückten Buchstaben noch lesen kann, also reiße ich die Seitenränder ab und vernichte sie.
    Meistens beobachte ich Morana: sein träges Zuhören mit halb geöffnetem Mund, seinen Kopf, der sich nie bewegt, den kleinen Wust feiner Haare und seine Finger mit den Gelenken zwischen den Gliedern, die wie Knoten aussehen. Nach der fünften Stunde folge ich ihm nach Hause. Als er durch die Eingangstür aus Holz tritt, hinter der man eine schmale Treppe erahnen kann, bleibe ich in Sichtdeckung noch eine halbe Stunde da. Ich betrachte die düsteren Fassaden der Häuser, während die Leute mir auf dem Gehweg ausweichen. Ich verharre dort, warte, dass Morana herauskommt; es würde mir gefallen, noch einmal den Löwen anzusehen; es geschieht nichts, also gehe ich weg.
    Einmal betritt Morana das Haus, macht die Eingangstür hinter sich zu, es vergehen fünf Minuten, und er kommt wieder heraus. Er sieht mich, ich grüße ihn, er schaut mich an und reibt seine Finger aneinander. Ich sage ihm, ich suche ein Schuhgeschäft, weil ich mir ein Paar Turnschuhe kaufen muss. Es ist zwei Uhr
nachmittags, alles ist geschlossen: Ich sage, ich warte darauf, dass die Läden aufmachen, aber jetzt habe ich Durst bekommen und suche eine Bar. Er sagt noch immer nichts. Er hat Schorf um den Mund herum, auf der Stirn und den Wangen, die Krusten sehen aus wie Brotkrümel. Ich versuche, ihn nicht anzustarren, bin verlegen. Ich ziehe den Stacheldraht aus der Tasche und halte ihn Morana hin.
    »Sieh mal«, sage ich.
    Morana nimmt ihn, für einen Augenblick fallen mir die Augen zu; die Luft ist frisch, aber es ist nicht kalt, die Sonne scheint sogar, es wäre schön zu schlafen.
    Er hält den Stacheldraht in beiden Händen, als wäre er eine Heuschrecke. Er berührt ihn, dreht ihn, bringt ihn ans Gesicht und schnüffelt daran. Ich würde am liebsten lächeln, doch ich bleibe ernst.
    »In der Schule«, sagt er mit sehr leiser Stimme, »machst du damit Kerben.«
    Er wendet den Stacheldraht weiter in seinen Fingern hin und her, dreht ihn auf den Kopf, sucht ein Oben und ein Unten, ein Innen und ein Außen. Hört auf damit.
    »Im Haus haben wir Wasser«, sagt er und gibt mir den Stacheldraht zurück. Er macht kehrt und geht.
    Ich zögere ein paar Sekunden, dann akzeptiere ich, was vermutlich eine Einladung ist. Es ist nützlich, sage ich mir, zu erfahren, wie er wohnt. Es ist nicht geplant, wurde bei der Sitzung nicht

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